Staumeldungen
Was gestaut wird, bewegt sich nicht. Wer mit dem Auto im Stau steht, bewegt sich auch nicht. Ein Stau bildet sich und löst sich wieder auf – auch in der Politik. Es sei denn, alle stehen dauerhaft auf der Bremse.
Ich stehe im Stau. Wie Millionen anderer Deutscher, die ungezählte Minuten und Stunden in ihren eigenen vier Wänden aus Blech Blech, -e (n.) ein dünnes Metall ausharren aus|harren geduldig warten . Das kennt der autofahrende Deutsche schon – besonders zu Ferienzeiten. Stoßstange an Stoßstange Stoßstange an Stoßstange umgangssprachlich für: Autos, die mit ganz wenig Abstand hintereinander stehen schiebt er sich vorwärts, meist fluchend, dass jetzt Stunden gebraucht werden, bis das Ziel endlich erreicht ist.
Wohnzimmer auf der Straße
Im Radio war der Stau sogar angekündigt. Aber nein, ich habe mich nicht vom Weg abbringen lassen, habe die Staumeldungen außer Acht gelassen. Zuerst haben sie von zähfließendem Verkehr, dann von Schritttempo gesprochen. Das Wort „Schritttempo“ mit seinen drei aufeinander folgenden Konsonanten bildet lautmalerisch nach, wie langsam es voran geht. Noch langsamer als beim zähfließenden Verkehr, denn da bewegt man sich wenigstens mit mehr als vier Kilometern die Stunde.
Die Deutschen verhalten sich wie die sprichwörtlichen Lemminge – die Wühlmäuse, die angeblich in den kollektiven kollektiv gemeinschaftlich Selbstmord stürzen. Sehenden Auges sehenden Auges umgangssprachlich für: sich über etwas bewusst sein, es aber trotzdem tun stellen sie sich in kilometerlange Autoschlangen. Ein Psychologe hat dieses Verhalten einmal damit erklärt, dass der Stau einen gewissen Lustgewinn bringe. Wer im Stau stehe, sei in seinem Wohnzimmer, nur auf der Straße, ohne sich dabei zu nahe kommen zu müssen und doch einer gemeinsamen Idee verpflichtet. Aber vielleicht ist diese These genauso unhaltbar wie die des kollektiven Selbstmords der Lemminge.
Politik im Stau
Im Kleinwagen neben mir zieht etwas nach|ziehen hier: noch mal über etwas drübergehen (mit einem Stift o.Ä.) eine junge Frau ihren Lippenstift nach etwas nach|ziehen hier: noch mal über etwas drübergehen (mit einem Stift o.Ä.) und singt. Hinter mir versucht ein Vater seinen beiden streitenden Kindern auf der Rückbank verzweifelt zu vermitteln, dass es besser ist, sich sich vertragen einen Streit beenden; einander nach einem Streit verzeihen zu vertragen sich vertragen einen Streit beenden; einander nach einem Streit verzeihen . Und schräg vor mir tut ein Pärchen das, wofür zu Hause offenbar keine Zeit mehr war: Es knutscht. Was würde uns also alles ohne den Stau fehlen: Gepflegtes Aussehen, Erziehung, Liebe. Eine Welt im Kleinen halt.
Staus haben also auch Positives zu bieten. Außerdem sind sie eine Gelegenheit, über wesentliche Dinge nachzudenken. Zum Beispiel darüber, wie Autos unsere Sprache verändert haben. Nicht nur sie bleiben „stecken“, sondern auch die Politik. Das heißt dann „Reformstau“. Maximal im Schritttempo bewegen sich die reformwilligen Politiker von einer Baustelle zur nächsten. Dass es an der Zeit wäre, einmal Gas Gas geben schneller fahren; etwas beschleunigen zu geben Gas geben schneller fahren; etwas beschleunigen , wissen alle. Aber da es in der deutschen Konsensdemokratie ja zuerst einmal darum geht, die Interessen der eigenen Klientel Klientel, - (f.) der Auftraggeber; der Kunde; hier: Anhängerinnen und Anhängern einer politischen Partei zu schützen, wird auf die Bremse getreten auf die Bremse treten langsamer fahren; etwas verlangsamen und stoppen .
Stehende Ferraris
Ohnehin ist das Automobil dann am schönsten, wenn es steht – zum Beispiel bei der größten Autoschau der Welt, der Internationalen Automobilausstellung IAA. Die findet jedes Jahr im Herbst in Frankfurt am Main statt. Da sieht man sie dann, die PKW-Junkies Junkie, -s (m.) jemand, der abhängig ist von etwas (z. B. Drogen) , die von Mercedes zu BMW wandern, hin und wieder, wenn keiner guckt, über blank poliertes blank|polieren etwas so lange reiben (z.B. mit einem Tuch), bis es glänzt Metall eines Porsche streicheln, die Augen verzückt, um dann bei Aston Martin zu landen, die Nackenhaare in purem Glück aufgestellt.
Die Krönung ist natürlich Ferrari, das Modell ganz in Rot. Da werden bestimmte Träume geträumt und leise „If I were a rich man“ gesummt. An einen Stau denkt da bestimmt niemand. Denn schließlich löst dieser sich ja irgendwann auf und die 390 PS könnten ihre volle Leistung erbringen. Der Wagen könnte so richtig ausgefahren etwas aus|fahren hier: etwas mit hoher Geschwindigkeit fahren werden – ja, wenn man ihn denn hätte.
Freie Fahrt für freie Bürger?
Im Radio sagen sie, dass es ein Unfall war, der zu meinem Stau geführt hat. Bei aller Freude über die besinnlichen Minuten, die man hier verbringen darf, ist das natürlich weniger hübsch, das mit den Unfällen. Hinter jedem Unfall stecken Schreck, Verletzungen, manchmal sogar Tod. Blech- oder sogar Totalschäden sind da eher nebensächlich.
Aber schließlich ist das Auto für Deutsche ja eigentlich auch kein Verkehrsmittel, sondern kollektiver Fetisch Fetisch, e- (m.) (aus dem Französischen) ein Gegenstand, dem subjektiv besondere Bedeutung beigemessen wird , Symbol des Wirtschaftswunders, eingebrannt eingebrannt hier: umgangssprachlich für: so, dass man etwas nicht vergisst ins nationale Gedächtnis. Und so was kostet – auch Menschenleben. Aber dafür darf man auf deutschen Autobahnen an vielen Stellen so schnell fahren wie man will – frei nach dem Motto einer Kampagne des größten deutschen Automobilclubs, des ADAC, im Jahr 1974: „Freie Fahrt für freie Bürger“.
Kein Michael Schumacher
Für mich trifft das nicht zu. Schon als Kind war ich kein Raser – obwohl ich wenige Kilometer von Michael Schumacher groß geworden bin, dem berühmten deutschen Rennfahrer. Seine Eltern hatten eine Kart Kart, -s (m.) (aus dem Englischen) Abkürzung von Gokart: ein niedriger, kleiner Sportrennwagen ohne Türen und Dach bahn und ich kann mich noch daran erinnern, von meinen gefühllosen Eltern dorthin verschleppt jemanden verschleppen jemanden gegen seinen Willen irgendwohin bringen worden zu sein. Vielleicht bin ich ja damals sogar einmal von „Schumi“ überholt worden. Ich bin immer rechts gefahren und sehr langsam. Meine Eltern haben sich geschämt.
Danach musste ich emotional erst einmal auftanken. Meine Psyche brauchte eine Runderneuerung. Irgendwann haben meine Eltern dann geguckt wie ein Auto gucken wie ein Auto umgangssprachlich für: sehr erstaunt schauen , als ich mit meinem Führerschein vor ihnen stand. Ich war zwar total erschöpft, meine Batterien waren leer, aber ich habe mich nicht von rechts überholen lassen.
Stau-Kino
Das knutschende Pärchen ist übrigens in der Zwischenzeit ohne Umweg vom Knutschen zum Streiten übergegangen. Die junge Frau mit den roten Lippen hat sich den schwarzen Kaffee über die weiße Bluse gekippt. Und in den Augenwinkeln des erziehenden Vaters meine ich Tränen zu sehen. Im Stau ist das Leben. Eine Welt im Kleinen eben.
Staumeldungen
Blech, -e (n.) — ein dünnes Metall
aus|harren — geduldig warten
Stoßstange an Stoßstange — umgangssprachlich für: Autos, die mit ganz wenig Abstand hintereinander stehen
kollektiv — gemeinschaftlich
sehenden Auges — umgangssprachlich für: sich über etwas bewusst sein, es aber trotzdem tun
etwas nach|ziehen — hier: noch mal über etwas drübergehen (mit einem Stift o.Ä.)
sich vertragen — einen Streit beenden; einander nach einem Streit verzeihen
Gas geben — schneller fahren; etwas beschleunigen
Klientel, - (f.) — der Auftraggeber; der Kunde; hier: Anhängerinnen und Anhängern einer politischen Partei
auf die Bremse treten — langsamer fahren; etwas verlangsamen und stoppen
Junkie, -s (m.) — jemand, der abhängig ist von etwas (z. B. Drogen)
blank|polieren — etwas so lange reiben (z.B. mit einem Tuch), bis es glänzt
etwas aus|fahren — hier: etwas mit hoher Geschwindigkeit fahren
Fetisch, e- (m.) — (aus dem Französischen) ein Gegenstand, dem subjektiv besondere Bedeutung beigemessen wird
eingebrannt — hier: umgangssprachlich für: so, dass man etwas nicht vergisst
Kart, -s (m.) — (aus dem Englischen) Abkürzung von Gokart: ein niedriger, kleiner Sportrennwagen ohne Türen und Dach
jemanden verschleppen — jemanden gegen seinen Willen irgendwohin bringen
gucken wie ein Auto — umgangssprachlich für: sehr erstaunt schauen