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Die zweite Milliarde

André Sarin11. Juli 2008

Indiens Bevölkerung wächst weiter – trotz jahrzehntelanger Familienplanung. In den Städten führt das zu Engpässen bei Strom und Wasser. Der wachsende Mittelstand bietet aber auch Chancen für die indische Wirtschaft.

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Indien: Bombay - Powai Blick auf die Hochhäuser im Hiranandani Komplex in Powai in der indischen Stadt Bombay im Bundesstaat Maharashtra bei Nacht. Undatierte Aufnahme. (Quelle: dpa)
In Bombay (Mumbai) leben bereits 20 Millionen MenschenBild: picture-alliance / dpa

Indiens Bevölkerung hat im Mai 2000 offiziell die Milliardengrenze überschritten. Heute, im Jahr 2008, sind es schon über 1,1 Milliarden Menschen. Mit abflachender Wachstumskurve werden es 2050 über 1,7 Milliarden sein, damit ist dann jeder sechste Erdenbewohner eine Inderin oder ein Inder.

Die geplante Bevölkerung

Fünf Kinder (Quelle: dpa)
In einem Slum in KalkuttaBild: AP

Das Bevölkerungswachstum bringt die bekannten Probleme mit sich: Schul- und Ausbildungsplätze sind rar, die Versorgung mit Nahrung, Wasser und Energie stellt den indischen Staat vor große Herausforderungen. Dabei hatte die Regierung schon früh eine Notwendigkeit für gezielte Bevölkerungsplanung erkannt.

Schon kurz nach der Unabhängigkeit habe Indien das Ministerium für Bevölkerungsplanung entwickelt, erklärt Heinz Werner Wessler vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. "Das war damals weltweit noch eine neue Idee, dass der Staat aktiv in die Bevölkerungsplanung eingreifen sollte. Das hat aber dann mit der Zeit auch dazu geführt, dass eine Art Panik vor der Überbevölkerung entstanden ist, was dann auch zu diesen entsetzlichen Ausschreitungen in der Zeit der Notstandsregierung Indira Gandhis beigetragen hat."

"Entsetzliche Ausschreitungen"

Vier Frauen (Quelle: dpa)
Indische Frauen in BombayBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Unter Indira Gandhis Notstandsregime von 1975 bis 1977 geriet die staatliche Familienplanung vor allem durch die Zwangssterilisierung von Angehörigen der Unterschichten in Verruf. Auch heute noch wird die Familienplanung mit zum Teil aggressiven Kampagnen verbreitet. Das jährliche Bevölkerungswachstum ist mittlerweile von vier auf 1,6 Prozent gesunken.

Rückläufiges Bevölkerungswachstum und der traditionelle Wunsch nach männlicher Nachkommenschaft führen allerdings zu einem neuen Problem. "Es ist natürlich sehr unglücklich, dass die Bevölkerungsplanung mit der Abtreibungsfrage so eng verbunden wird, als wäre Abtreibung ein Mittel der Bevölkerungsplanung. Vor allem die geschlechtsspezifische Abtreibung wächst in Indien immer mehr zu einem Problem heran, das wahrscheinlich die Probleme der Überbevölkerung noch in den Schatten stellen wird", sagt Wessler. Schon heute gebe es Bezirke in Indien, in denen das Verhältnis von Jungen und Mädchen bei unter fünf Jahren 1000 zu 750 ist. "Da merkt man, dass etwas grundsätzlich nicht in Ordnung ist.“

Landflucht der Männer

Menschen vor einer Hütte (Quelle: dpa)
Am zweitlängsten Strand der Welt – in Chennai, dem früheren Madras – leben zahlreiche Menschen in SlumsBild: dpa

Gerade arme Bauern auf dem Land bekommen das zu spüren. Sie finden keine heiratswillige Frau und sind so gezwungen, in die Stadt zu ziehen. Derzeit leben zwar noch über 70 Prozent der Menschen in Indien auf dem Land, doch der Anteil der städtischen Bevölkerung wächst stetig. Allein in den drei Megastädten Delhi (18 Millionen), Mumbai (Bombay; 20 Millionen) und Kolkata (Kalkutta; 15 Millionen) leben 53 Millionen Menschen – soviel wie in Spanien und Portugal zusammen. Heute gibt es drei Dutzend Metropolen in Indien mit mehr als einer Million Einwohnern.

So viele Menschen auf kleinem Raum - da kommt es zwangsläufig zu Versorgungsengpässen, die aber mit Improvisationstalent gemeistert werden, wie Achim Rodewald von der Deutsch-Indischen Handelskammer in Mumbai (Bombay) am Beispiel der Wasserversorgung erklärt: "Fließendes Wasser, wie wir es aus Deutschland kennen, gibt es in ganz Bombay nicht. Es sieht so aus, dass es Hauptwasserleitungen gibt, die in alle Stadtteile gehen und die stundenweise je nach Stadtteil bedient werden. Das heißt, in einem Stadtteil gibt es dann fließendes Wasser für eine Stunde. Man muss sich Wassertanks in seinen Gebäuden anlegen und in dieser Zeit auffüllen und dann den Tag über davon leben."

Strom und Wasser sind knapp

Bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln steht Indien dagegen weit besser da. "Indien ist grundsätzlich in der Lage, seine derzeitige Bevölkerung aus eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu ernähren", sagt Rodewald. Das beinhalte natürlich nicht Luxusgüter oder Luxusnahrungsmittel. "Aber alles, was zum Überleben notwendig ist, kann Indien mittlerweile für seine Bevölkerung herstellen." Indien habe eine relativ große Nahrungsmittelindustrie und subventioniere seine Landwirtschaft ziemlich stark. "Das kommt natürlich im Endeffekt der überwiegend nicht so wohlhabenden Bevölkerung in Indien sehr zugute", sagt Rodewald. "Deswegen sind die Nahrungsmittel in Indien vergleichsweise günstig.“

Neben Wasser und Nahrung ist die Energieversorgung ein weiteres Problem in Indien – und das nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Ganzen Stadtteilen wird manchmal über Stunden der Strom abgeschaltet. Benzingeneratoren zur Stromgewinnung findet man daher in nahezu jedem Haushalt. Größere Firmen sowie Fabriken verfügen meist über eine eigene Energieversorgung.

Stadtbewohner als Ressource

Ungeachtet aller Probleme sieht die Regierung gerade in der städtischen Bevölkerung Indiens größte Ressource. Zum einen stellt diese einen enormen Pool an Arbeitskräften für die indische Wirtschaft dar, zum anderen ist die Bevölkerung aber auch der größte Absatzmarkt für die heimische Produktion. So verfügt Indien über eine kaufkräftige und wachsende Mittelschicht von 250 bis 400 Millionen Menschen.
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