Staatliche Schnüffelei in Schlafzimmern
15. November 2013Unverheiratete Studenten und Studentinnen sollen in der Türkei nicht zusammen wohnen. Diese Meinung vertritt zumindest der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan. "Niemand weiß, was in diesen Wohnräumen geschieht. Alle möglichen dubiosen Dinge können geschehen. Und dann beschweren sich die Eltern und fragen, wo der Staat denn bleibe. Als eine konservative und demokratische Regierung müssen wir intervenieren", so Erdogan bei einem Treffen seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP.
Medienberichten zufolge ist es bereits zu polizeilichen Kontrollen in Studentenwohnungen gekommen. Vergangenen Samstag (9.11.2013) sei die Wohnung dreier Studentinnen in der türkischen Stadt Manisa von sechs Polizeibeamten durchsucht worden, berichtet die Zeitung Radikal. Die Studentinnen hatten männlichen Besuch. "Leben hier Männer und Frauen zusammen?" habe die Fragestellung der Polizisten gelautet. Die Studentinnen seien jeweils mit einer Geldstrafe von rund 32 Euro belegt worden. Die Begründung: Ruhestörung.
Der Bürgermeister von Manisa, Abdurraham Savas, bestritt, dass die Kontrolle stattgefunden habe, weil Männer und Frauen gemeinsam in der gleichen Wohnung leben.
Erdogans Aussage hat eine neue heftige Diskussion darüber ausgelöst, ob sich der Staat in die Privatsphäre der Bürger einmischen darf. Kemal Kiliçdaroglu, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionspartei des Landes, wirft Erdogan vor, die Demokratie zu missbrauchen. Auch die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP schloss sich der Kritik an: "Der Premierminister muss sich definitiv bei den unschuldigen Studenten und deren Familien entschuldigen", so der Parteivorsitzende Devlet Bahçeli.
Ein Riss in der Parteispitze
Aber nicht nur in den Reihen der Opposition, auch innerhalb der AKP rumort es gewaltig. Vor allem zwischen Erdogan und Vizepremier Bülent Arinc zeigen sich Differenzen. Nach Erdogans Aussage, er wolle gegen unehelich zusammenwohnende Studenten vorgehen, spielte Arinc dies in der Öffentlichkeit zunächst herunter. Das sei nur ein Missverständnis, sagte er. Doch Erdogan blieb dabei: "Ich habe es genau so gesagt und auch gemeint."
Arinc reagierte umgehend: zunächst kritisierte er Erdogan öffentlich - ein in der Türkei unerhörtes Vorgehen. Nun ist er noch einen Schritt weiter gegangen: Obwohl er einer der Gründer der AKP ist, kündigte Arinc an, bei den kommenden Wahlen nicht mehr für die AKP kandidieren zu wollen. Bereits im März 2014 wird es Kommunalwahlen in der Türkei geben, im Spätsommer sind dann die Präsidentschaftswahlen. 2015 sollen die Parlamentswahlen stattfinden. Sollte sich Arinc zurückziehen, würde das einen "Riss in der Parteispitze" bedeuten, sagt der Politologe Cengiz Aktar.
Die Hintergründe des Streits liegen jedoch tiefer als die aktuelle Diskussion über die Geschlechtertrennung in Studentenwohnungen. Als die Gezipark-Proteste im Juni dieses Jahres in Istanbul ausbrachen, fuhr Arinc - im Gegensatz zu Erdogan - einen milden Kurs. Er entschuldigte sich bei den Demonstranten für die Polizeigewalt. Erdogan dagegen gab den Hardliner: Er nannte die Demonstranten "Terroristen" und "Gesindel". Schon damals zeigten sich deutliche Differenzen zwischen den beiden starken Männern in der Regierungspartei. Arinc steht eher für einen nicht-autoritären Regierungsstil. Erdogan dagegen ist weiterhin bestrebt, seine zentrale Rolle in Partei und Staat zu festigen.
Vorwand Terrorbekämpfung
Bei der Diskussion um die Wohnsituation von Studenten bekommt Erdogan vor allem vom türkischen Innenminister Muammer Güler Rückendeckung. Güler erklärte, sein Ministerium würde die Angelegenheit vorrangig unter dem Aspekt der Terrorbekämpfung betrachten. "Unsere Recherchen zeigen, dass terroristische Organisationen die Beziehungen zwischen männlichen und weiblichen Studenten ausnutzen, um Unterstützung von der Schul- und Universitätsjugend zu erhalten", wird der Innenminister von der größten türkischen Zeitung Hürriyet zitiert. Viele dieser Unterkünfte seien Orte, an denen sich Terrorverdächtige verstecken oder an denen Prostitution betrieben würde, behauptete Güler.
Dies sei nur eine Ausrede, meint die 21-jährige Lehramtsstudentin Aybüke Dündar. "Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich die Regierungsspitze für unser Privatleben interessiert", so Dündar im DW-Gespräch. Das gehe jetzt jedoch zu weit, findet die Studentin. "Wir können doch wohl selbst entscheiden, mit wem wir zusammen wohnen. In Erdogans Phantasie scheinen all die Jungen und Mädchen nur Sexpartys mit Alkohol zu feiern. Und auch wenn es so wäre, ist es nicht seine Sache", schimpft die 21-Jährige.
Hände weg von der Privatsphäre
Bereits vor Monaten demonstrierten hunderttausende Bürger für mehr persönliche Freiheiten. Die islamisch-konservative Regierung unter Erdogan mische sich zu sehr in die Privatsphäre der Menschen ein, lautete der Vorwurf der Demonstranten. Die Kritik richtete sich vor allem gegen das damals neu eingeführte Alkoholgesetz. Demnach darf Alkohol in Geschäften, Supermärkten und an Kiosken nur noch bis 22 Uhr verkauft werden. Auch im Umkreis von 100 Metern zu Bildungseinrichtungen und Gotteshäusern wurde der Verkauf von Alkohol verboten. Viele säkulare Türken verstanden die neue Regelung als religiös motivierte Ablehnung von Alkohol seitens der islamisch-konservativen Regierung.
Außerdem äußerte sich Erdogan des Öfteren öffentlich zum Familienbild in der Türkei: "Die Frauen im Land sollen mindestens drei Kinder zur Welt bringen. Wir müssen unsere Nation schützen", so Erdogan etwa im August in einer Rede in Istanbul, die vom Fernsehsender NTV übertragen wurde. Es sei sein Recht als Regierungschef, dies zu fordern, führte er weiter aus.
Özgür Samlioglu gehörte zu den Demonstranten der vergangenen Monate. Der 23-jährige Student sieht in der momentanen Diskussion eine Wiederholung der Ereignisse. "Die Bürger haben doch schon mal gezeigt, wie sie reagieren können, wenn die Regierung die Freiheiten der Menschen beschneidet. Erdogan soll die Hände von der Privatsphäre der Menschen nehmen. Was fällt ihm nur ein", so der Student gegenüber der DW.
Bisher gibt es keine rechtliche Grundlage, die Wohnungen danach zu kontrollieren, wer dort wohnt, betont Politologe Cengiz Aktar. "So etwas existiert nicht in der türkischen Verfassung." Das könnte sich aber bald ändern: Laut Hürriyet habe der türkische Innenminister Muammer Güler vorgeschlagen, einen neuen Gesetzentwurf auszuarbeiten. Das Ziel: Studentenwohnungen sollen künftig unter polizeiliche Aufsicht gestellt werden.