Deutsche Gerechtigkeit
26. April 2010Gerechtigkeitsfragen sind zeitlos. Bereits der griechische Philosoph Aristoteles hat sich in seiner Nikomachischen Ethik damit beschäftigt. Seit dem wissen wir auch, dass Fragen der Gerechtigkeit sehr vielschichtig sind. So lässt sich der Maßstab der Gerechtigkeit sowohl an Prozesse als auch an Verteilungen anlegen. Aristoteles spricht von prozeduraler und distributiver Gerechtigkeit. Mit Blick auf mögliche Verteilungen stellt sich die Anschlussfrage, nach welchem Maßstab diese zu beurteilen sind. Ist eine Verteilung gerecht, bei der jeder nach seinen Bedürfnissen versorgt wird? Jeder nach seinen Leistungen? In der jeder das Gleiche erhält?
All diese Fragen kann man unter normativ-philosophischen Gesichtspunkten diskutieren: Wie sollte eine gute und gerechte Verteilung aussehen? Nicht minder wichtig und wertvoll ist allerdings eine zweite Perspektive, nämlich die der Bürgerinnen und Bürger, denn das Wirkungspotenzial von Ungerechtigkeit ist groß. Der amerikanische Soziologe Ted Gurr beantwortet seinen fragenden Buchtitel "Why Men Rebel" letztlich mit dem Verweis auf Ungerechtigkeitsempfindungen. Auch Günter Rieger spricht in einem einschlägigen Überblicksartikel davon, dass Gerechtigkeit "eine unbedingte Legitimationsfunktion in Bezug auf Herrschaft und Güterverteilung" erfülle.
Ist der Lebensstandard gerecht verteilt?
20 Jahre nach der Deutschen Einheit ist es somit höchste Zeit zu fragen: Wie ist es um die Gerechtigkeit in Deutschland bestellt? Wie sehen die Gerechtigkeitsempfindungen der Bürgerinnen und Bürger hierzulande aus - und wie haben sie sich entwickelt?
Dies beginnt im Kleinen, in den eigenen vier Wänden. Haben die Menschen in Ost- und Westdeutschland das Gefühl, dass sie ganz persönlich mit einem gerechten Anteil am Lebensstandard bedacht werden? Die folgende Abbildung zeigt, dass sich ganz verschiedene Entwicklungen in diesem Bereich in der jüngeren Vergangenheit vollzogen haben. Insgesamt dürfte die Abbildung dabei gemischte Gefühle auslösen.
1991 hatte nur etwa jeder sechste Ostdeutsche das Gefühl, einen gerechten Anteil am Lebensstandard (oder gar mehr) zu erhalten. In der alten Bundesrepublik dagegen war es eine überwiegende Mehrheit: Drei von vier Westdeutschen teilten dieses Gefühl. Diese beachtliche Lücke hatte sich in den ersten Jahren nach der Einheit allmählich geschlossen - allerdings nur bis in das Jahr 1996 hinein. Seit dem herrscht Stillstand - der Abstand zwischen Ost und West ist nahezu unverändert, die Kurven beider Landesteile bewegen sich im Gleichklang auf - und in jüngerer Vergangenheit vor allem auch ab. 2008 waren noch rund 60 Prozent der westdeutschen Befragten der Meinung, sie persönlich erhielten einen gerechten Anteil vom zu verteilenden Kuchen; im Osten ist es weiterhin nur jeder Dritte. Das Niveau erlebter Gerechtigkeit im Osten Deutschlands ist weiterhin niedrig, die Lücke zwischen Ost und West dagegen weiterhin groß.
Geht es im Land insgesamt gerecht zu?
Gerechtigkeit gibt es aber nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen. Diesbezüglich sind die Zahlen noch bedenklicher: Zu keinem Zeitpunkt findet sich eine Mehrheit, die die Situation in Deutschland als gerecht empfindet - auch nicht in Westdeutschland. Selbst dort finden sich in den jüngsten Erhebungen nur noch Zustimmungswerte von rund 30 Prozent bei einschlägigen Fragen. Und trotzdem findet sich darüber hinaus noch eine deutliche Lücke im Ost-West-Vergleich, eine Erholung in Ostdeutschland bleibt dabei aus. Die Werte dort liegen konstant zwischen mageren zehn und 15 Prozent.
Die Gründe für dieses hohe Maß an wahrgenommener Ungerechtigkeit - im Kleinen wie im Großen - sind vielfältiger Natur: Gerade der Situation auf dem Arbeitsmarkt und den damit verbundenen Konsequenzen für die Betroffenen kommt sicherlich die größte Bedeutung zu. Ebenso wenig aber, wie man sich mit der weiterhin angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt abfinden sollte, sollte man dies mit Blick auf die wahrgenommene (Un-)Gerechtigkeit tun. Wie die Zahlen zeigen, haben Menschen ein Gespür dafür, weit über ihre eigenen vier Wände hinaus, ob es gerecht zugeht oder nicht. Dieses Gespür muss man sehr ernst nehmen, denn Gerechtigkeit - um noch einmal Rieger zu zitieren - erfüllt nun einmal eine "unbedingte Legitimationsfunktion in Bezug auf Herrschaft und Güterverteilung".
Autor: Thorsten Faas
Redaktion: Nicole Scherschun
Thorsten Faas, geboren 1975, ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und forscht insbesondere zum Wählerverhalten. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören außerdem die Themen Wahlkämpfe und politische Folgen von Arbeitslosigkeit.