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Sir Simon Rattle – der Schallplattendirigent

20. Januar 2006

Ein halbes Dutzend CDs im Laufe eines Jahres, dazu gleich mehrere DVDs: Simon Rattle ist der Schallplattendirigent unserer Zeit.

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Sir Simon Rattle (AP Photo/Herbert Knosowski)Bild: AP

Jörg Hillebrand Herr Rattle, in einem Interview mit Klaus Umbach vom „Spiegel“ haben Sie vor kurzem gesagt, in seiner gegenwärtigen technischen Form habe der Tonträger sich überlebt. Warum produzieren Sie dann noch so viele Schallplatten?

Simon Rattle Wie auch immer das im „Spiegel“ übersetzt worden ist, wollte ich doch nur sagen, dass wir das Privileg besitzen, so viele Schallplatten aufzunehmen und somit Zeugnis von den verschiedenen Stadien eines „work in progress“ abzulegen, dass sich dies aber wahrscheinlich in den nächsten Jahren mit dem Aufkommen neuer Technologien ändern wird. Das Leben wird sich einfach ändern, und das wird Gewinne, aber auch Verluste mit sich bringen. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft die Möglichkeit haben werden, das Ideal einer Aufführung festzuhalten, an der wir lange gearbeitet haben. Die Aufnahmen, mit denen ich aufgewachsen bin und die mir heute noch aus meiner Sammlung die liebsten sind, gehören alle zu der Sorte, die über Jahre hinweg geplant und sorgfältig hergestellt wurden. Was ich sagen wollte, war also eigentlich nur, dass der Schallplattenmarkt sich eher im Herbst als im Frühling seiner Jahre befindet.

JH Dann lassen Sie uns über die Ernte dieses Herbstes sprechen, und beginnen wir mit Ihrer aktuellen Veröffentlichung: Die Neunte ist das erste Werk Schuberts, das Sie aufgenommen haben. Warum fangen Sie mit seiner letzten Sinfonie an?

SR Jede der Sinfonien ist so schwierig, dass es fast keinen Unterschied bedeutet, mit welcher man beginnt. Ich würde behaupten, dass etwa die „Tragische“ in jeder Hinsicht so schwierig ist wie Beethovens Neunte. So großartig aber alle diese Werke sind, so erreichte Schubert mit seinen letzten beiden Sinfonien doch eine besondere Art von Vollkommenheit. In der Neunten ereignet sich eine Katastrophe wie nie zuvor in der sinfonischen Musik. Schubert verursacht hier eine Krise von solcher Heftigkeit, dass die Musik fast nicht mehr vorwärts kommt. Wir haben lange darüber gesprochen, ob dieses Stück freudig ist oder eine freudige Höllenfahrt. Die Neunte war eines der ersten Werke, die wir in meinem ersten Berliner Jahr aufgeführt haben, und im zweiten Jahr haben wir sie mit auf eine ausgedehnte Konzertreise durch die Staaten genommen. Da kamen die Verantwortlichen bei EMI auf die wunderbar altmodische Idee, Aufführungen anzuhören und mich zu fragen, ob sie die Sinfonie so bald wie möglich aufnehmen könnten. Nun ist für mich die beste Aufnahme der Neunten Schuberts diejenige von Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern, die über einen viel längeren Zeitraum aufgebaut wurde. Dennoch stand uns der Sinn danach, von einem Stück, das wir sehr gründlich erarbeitet hatten, gewissermaßen einen Schnappschuss zu machen, ähnlich einem Familienfoto. Außerdem liegt Schuberts Neunte ziemlich genau im Zentrum des Repertoires der Philharmoniker, in der Mitte zwischen Klassik und Romantik.

JH Bewegen wir uns rückwärts durch dieses Repertoire: Gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ haben Sie geäußert, seit einem Jahrzehnt befänden Sie sich auf der Suche nach Bach. Im März werden Sie in Berlin die „Johannes-Passion“ dirigieren. Wird dieser Weg zu Bach auch in Ihrer Diskographie Spuren hinterlassen?

SR Ich habe keine Ahnung, ob irgendjemand meinen Bach wird aufnehmen wollen. Wichtig ist nur, dass wir alle Bach spielen. Je länger ich dirigiere, desto stärker glaube ich, dass das gesamte Repertoire innerlich zusammenhängt. Zum Beispiel ist es heute fast undenkbar, Bruckner zu spielen, ohne auch Bach zu spielen. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Oder nehmen wir Schuberts Neunte, die auf viel frühere Modelle zurückgreift, zugleich aber auch Bruckner vorwegnimmt. Es ist wichtig zu sehen, wo jeder Komponist in der Geschichte steht. Je breiter das Repertoire der Orchester ist, desto besser werden sie in jeder Hinsicht. Es ist nicht nur eine Frage der Flexibilität. Es ist eine Frage der Geschichte.

JH In der laufenden Saison haben die Berliner Philharmoniker mehrere der historischen Aufführungspraxis verpflichtete Ensembles zu einer Reihe mit dem Titel „Originalklang“ eingeladen. Sie selbst haben oft solche Ensembles geleitet, und das Orchester wird oft von Dirigenten aus dieser Szene dirigiert. Inwieweit beeinflussen diese Erfahrungen Ihre gemeinsame Arbeit an Barock-, klassischer und auch frühromantischer Musik?

SR Ich hoffe, dass man unserem Schubert anhört, wie sehr sie uns beeinflussen. In den letzten zwanzig Jahren hat die Einstellung der modernen Orchester gegenüber historischer Aufführungspraxis sich sehr geändert. Wenn man ihnen heute einen Dirigent vorsetzte, der Barock-, klassische oder frühromantische Musik so interpretierte wie vor dreißig oder vierzig Jahren, würden die meisten Musiker das befremdlich finden. Das ist kein Qualitätsurteil. Das hat lediglich damit zu tun, dass die Ohren der Menschen sich verändert haben. Eine neue Generation Orchestermusiker ist herangewachsen, die die Errungenschaften der Originalklangbewegung als selbstverständlich betrachtet. Viele Mitglieder der Philharmoniker verfügen über profunde Kenntnis der Aufführungspraxis, einige wirken bei Spezial-Ensembles mit, zum Beispiel bei den wunderbaren Berliner Barock-Solisten, die von Rainer Kussmaul geleitet werden. Was mich selbst betrifft, so lerne ich von der Aufführungspraxis bezüglich Tonerzeugung und Artikulation, bemühe mich aber, darüber nicht die lange Linie und das Gefühl für den Raum zu verlieren. Das macht die Musik komplexer, schwieriger zu spielen, aber auch reichhaltiger. So profitieren wir alle davon.

JH Gehen wir zum anderen Ende der Zeitskala: Gleich im nächsten Programm nach der „Johannes-Passion“ dirigieren Sie Holsts „Planeten“ zusammen mit Uraufführungen von Kaija Saariaho, Brett Dean, Matthias Pintscher und Mark-Anthony Turnage. Was haben sie miteinander zu tun?

SR Zu meiner großen Überraschung und Freude hat EMI vorgeschlagen, „Die Planeten“ einzuspielen. Mit dieser Periode der englischen Musik war ich bis jetzt in Berlin sehr vorsichtig. Immerhin wurde meine Heimat einst „Land ohne Musik“ genannt. Außerdem haben Orchestermitglieder mich daran erinnert, dass „Die Planeten“ eins von Karajans Paradestücken war und er es insgesamt drei Mal aufgenommen hat. Nun gibt es bereits einen „Pluto“, den Colin Matthews nachkomponiert hat, da der Planet zu Holsts Zeiten noch nicht entdeckt war. Das brachte uns auf die Idee, noch einige Asteroiden vertonen zu lassen, und wir haben den vier genannten Komponisten dazu Aufträge erteilt. Ich habe ihnen, wie ich es gerne tue, „the license to kill“ gegeben, die Freiheit zu schreiben, was immer sie wollen, solange es nicht länger als fünf Minuten dauert und Holsts Orchesterbesetzung nicht übersteigt. Die weiteste Auffassung von einem Asteroiden hat Brett Dean an den Tag gelegt, indem er ein Stück über einen russischen Astronauten komponiert hat, der im Weltraum verloren ging und somit eine Art menschlicher Asteroid wurde.

JH Wie wählen Sie Komponisten für einen Auftrag aus? Welche sind Ihre Kriterien?

SR Ich suche Komponisten, die das Sinfonieorchester als Klangkörper wirklich lieben, die es nicht nur dekonstruieren wollen, und Komponisten, die dem außergewöhnlichen Klang der Philharmoniker, dieser klanglichen Tiefe, Rechnung tragen. Aber ich möchte dem Publikum und dem Orchester ein möglichst weites Spektrum bieten. In Zeiten, in denen nur ein Auftrag pro Jahr vergeben wurde, war es vielleicht wichtiger, eine bestimmte Linie zu verfolgen. Ich aber versuche, in einer Zeit, in der viele verschiedene Stilrichtungen existieren, möglichst viele davon zu berücksichtigen.

JH Neue Musik ist auch das Thema Ihrer Fernsehserie „Leaving Home“, die nun in Deutschland auf DVD erschienen ist. Unsere Kritiker bemängelten einstimmig die darin vorkommenden kitschigen Naturaufnahmen. Gehören sie nicht einer Ästhetik an, die wir zehn Jahre später längst hinter uns gelassen haben?

SR Das mag sein. Ich habe die Filme seit zehn Jahren nicht gesehen. Ich hatte auch nur wenig Einfluss auf die visuelle Gestaltung der Dokumentation. Sie war nicht als Gesamtkunstwerk gedacht. Das Wesentliche an diesen Filmen war, dass wir nicht nur eine Menge Musik des 20. Jahrhunderts ins Fernsehen gebracht haben, sondern sie auch in einen historischen Kontext einbinden konnten, und ich erinnere mich, dass die Wirkung am stärksten war, wenn Musik und andere Kunstformen derselben Zeit miteinander verglichen wurden.

JH Zusammen mit Oliver Herrmann und seiner Verfilmung von „Le sacre du printemps“ haben Sie nun die Tür zu einer völlig neuartigen Visualisierung geöffnet. Ist das die Zukunft der klassischen Musik auf Ton- und Bildträgern?

SR Das ist Olivers sehr eigene und nihilistische Sicht der Dinge, und die Reaktionen waren sehr gespalten. Es kommt darauf an, dass man offen dafür ist und es ausprobiert. Das ist nicht die einzige Art, wie ich den „Sacre“ sehen möchte, aber es ist eine sehr persönliche und kraftvolle Sichtweise. Die entscheidende Frage ist, wie viel außermusikalische Hilfe die Menschen brauchen.

JH Ein weiterer, auch im Kino äußerst erfolgreicher Film mit Ihrer Beteiligung ist „Rhythm Is It“, die Dokumentation eines Projekts aus der Reihe „Zukunft@BPhil“, die mittlerweile seit über drei Jahren läuft. Welche anderen Produktionen dieser Reihe haben Sie als besonders gelungen empfunden?

SR Ein weiterer großer Schritt vorwärts war vor einem Jahr „Der Feuervogel“, bei dem wir viel jüngere, aber auch viel ältere Tänzer einbeziehen konnten. Niemand, der ihn gesehen hat, wird wohl jemals den Massen-Pas-de-deux für Großeltern und Enkel vergessen. Für März stehen die „Carmina Burana“ auf dem Programm, für Dezember „Les noces“. Dabei sind wieder viele verschiedene choreographische Ansätze möglich. Wichtig daran ist vor allem die gemeinschaftliche Erfahrung. Diese jungen und manchmal auch älteren Menschen arbeiten sich zu einem Niveau hoch, von dem sie nie gedacht hätten, es jemals auch nur annäherend erreichen zu können. Wir alle im Orchester haben das als sehr bewegend und bereichernd erlebt. Bestimmte Bilder dieser Produktionen werden uns immer begleiten, wenn wir diese Stücke spielen. Der Erziehungsprozess wirkt in beide Richtungen.

JH Zeitigt Ihre Erziehungsarbeit auch schon Ergebnisse in Form steigender Besucherzahlen?

SR Man kann ein Erziehungsprogramm nicht mit Blick auf den Kartenverkauf durchführen. Man muss es einfach tun. Man muss die Menschen überzeugen, dass sie Klassik für ihr Leben brauchen. Gerade den jungen Leuten muss man die Botschaft vermitteln, dass es in der modernen Welt zwar zahlreiche Attraktionen gibt, dass aber niemand ohne diese Art von Musik sein sollte. Die härteste Zeit sind die Teenager-Jahre. Ob wir uns da durchsetzen können, wer weiß? Wir werfen einfach unsere Samen aus, versuchen den Boden fruchtbar zu machen und warten ab, was wächst. In der Tat wird unser Publikum in Berlin immer jünger. Die jungen Leute kaufen keine teuren Abonnements, aber wann immer sie Karten bekommen können, kommen sie, besonders bei ungewöhnlichen Projekten oder bei zeitgenössischer Musik. Ich glaube, für viele junge Menschen ist zeitgenössische Musik ein leichterer Einstieg als klassische oder romantische. Alles in allem geht es also aufwärts, aber in seiner eigenen Geschwindigkeit. In zwanzig Jahren werden wir das Ergebnis kennen. Wir tun diese Arbeit, weil wir an sie glauben. Wir selbst mögen nicht ihre Nutznießer sein, aber wir hoffen, dass die Menschen, die mitmachen, es sind. Das Orchester ist ausgeschwärmt, um beispielsweise in Gefängnissen oder mit Behinderten zu arbeiten, zum Teil auch schon mit ziemlich großen Gruppen. Die Musiker haben ihre Rollen als Evangelisten angenommen, als wenn sie dafür geboren wären. Ich finde das sehr rührend.

JH Nach langer Suche haben die Berliner Philharmoniker endlich Pamela Rosenberg als neue Intendantin verpflichtet. In einem Interview mit Frederik Hanssen vom „Tagesspiegel“ haben Sie gesagt, Sie hätten zuvor mit mindestens drei Personen Kontakt gehabt, die ideal für den Posten gewesen wären, aber aus diversen Gründen unbedingt ihre aktuellen Tätigkeiten fortführen wollten. Ist Pamela Rosenberg also nur eine Notlösung?

SR Nein. Pamela ist für uns die bestmögliche Kandidatin. Ihr Name fiel schon gleich zu Beginn des Findungsprozesses, aber da war sie einfach nicht abkömmlich. Ein großer Teil dessen, was sie so attraktiv macht, ist nämlich ihre Treue. Mit ihrer absoluten Entschlossenheit, San Francisco auch in kurzer Zeit ans Laufen zu bringen, hat sie dort fantastische Arbeit geleistet. Nur war das neue Amerika, nach dem 11. September 2001, nicht mehr offen für das, was sie wollte.

JH Die Berliner Philharmoniker gelten als schwieriges, weil in hohem Maße demokratisch selbstverwaltetes Orchester. Welche Fähigkeiten muss ein Intendant mitbringen, um mit ihm zusammenzuarbeiten?

SR Die Zeit der Autokratie in den Künsten ist vorbei. Die erfolgreichsten Kulturorganisationen sind diejenigen, deren Mitglieder ein weit reichendes Mitspracherecht haben. Dennoch brauchen wir eine Intendantin – wie ich lernen muss, sie zu nennen – in so vielen Belangen, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll, sei es nun künstlerische Planung, Verwaltung, Strategie oder Fantasie hinsichtlich der Welt von morgen. Am glücklichsten über Pamela Rosenberg macht uns die Tatsache, dass sie eine intensive kindliche Visionärin ist und zugleich eine rational denkende Erwachsene. Schließlich gibt es viele Diven unter den Intendanten – vielleicht noch mehr als unter Musikern.

JH Kommen wir am Ende zurück zur guten alten Schallplatte: Welche Platten würden Sie mit auf die berühmte einsame Insel nehmen?

SR Diese Frage kann ich unmöglich ohne Vorbereitung beantworten. Wenn ich darauf aus dem Stegreif eine Antwort gäbe, würde ich sie schon im nächsten Moment bereuen.

JH Wie hören Sie denn Musik, wenn Sie gerade nicht auf einer einsamen Insel, sondern zu Hause sind? Haben Sie überhaupt Zeit dazu?

SR Unbedingt. Natürlich höre ich auch zu Hause viel im Hinblick auf meinen Beruf, zurzeit etwa auf einen Webern-Zyklus, über den wir in Berlin nachdenken. Das sind nicht viele Stunden Spieldauer, aber die Menge an konzentrierter Zeit, die man benötigt, um diese Musik in sein Gehirn zu bekommen, ist enorm. Ansonsten läuft im Haushalt zweier viel beschäftigter Künstler mit einem kleinen Kind Musik meist nur zwischen Tür und Angel. Aber wenn wir einmal beim Wein zusammensitzen und entspannen, hören wir Jazz oder Jordi Savall.

Biographie

Geboren 1955 in Liverpool. Studium an der Royal Academy of Music in London. Engagements beim Bournemouth Symphony, Royal Liverpool Philharmonic und BBC Scottish Symphony Orchestra sowie beim Rotterdams Philharmonisch Orkest. 1980-98 Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra. Seit 1992 Gastdirigent des Orchestra of the Age of Enlightenment. Seit 2002 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Lebt in Berlin zusammen mit der Sängerin Magdalena Kozená.

CD

Schubert, Sinfonie Nr. 9; Berliner Philharmoniker;

EMI CD 3 39382 2