Singen im Mutterland der Chormusik
25. Dezember 2012
Zwischen "Schneeflöckchen, Weißröckchen" und "Stille Nacht" passt immer noch ein "Eisern Union!". Mit diesem legendären Schlachtruf drängten sich auch in diesem Jahr wieder zigtausend Fans des Fußball-Zweitligisten 1. FC Union aus Berlin-Köpenick auf den Stufen des Vereinsstadions. Ein Schulchor stimmte die Fans ein. Dann sangen alle zusammen Weihnachtslieder. Und schnell ergab sich im Stadion eine merkwürdig harmonische Eintracht.
Das "Erlebnis Chor"
Natürlich war das kein Riesenchor im Stadion. Doch was das deutsche Musik-Magazin "Crescendo" beschreibt, motivierte vermutlich auch die Ansammlung von singenden Fans: "Da stehen Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, mit diversen Berufen und Lebensgeschichten, mit gegensätzlichen Meinungen und Ansichten auf einer Bühne und schaffen ein gemeinsames Erlebnis. Wer singt, kennt das Gefühl. Wenn jeder mit seiner Stimme etwas zum großen Ganzen beitragen kann." Wenn aus den vielen Einzelklängen eine große Harmonie wird, dann spüre man das "Erlebnis Chor", schreibt das Magazin.
Spaß an der Gemeinschaft
"Vom Volkslied bis zum Oratorium, vom Laiengesang bis zu professionellen Ensembles, von Kinder- bis Seniorenchören – im Chor zu singen, ist für Millionen von Menschen in Deutschland eine Leidenschaft", stellte der Berliner Musikwissenschaftler Habakuk Traber vor zwei Jahren in seiner Analyse der deutschen Chorszene für das Goethe-Institut fest. Experten schätzen, dass heute über drei Millionen Deutsche größtenteils in Laienchören, manche auch in professionellen und semi-professionellen Chören singen.
Spaß an der Gemeinschaft ist die Prämisse für einen Chorsänger. "Singen kommt aus der Mitte der Gesellschaft", sagt Moritz Puschke, Geschäftsführer des Deutschen Chorverbandes. Es koste nichts, sei etwas ganz Natürliches und jeder könne mitmachen.
Erhebungen zur deutschen Chorlandschaft sind rar. Thesen sind daher mit Vorsicht zu genießen. Eine einzige empirische Studie der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg erschien im Frühjahr 2009 und stellte fest, dass Chorsängerinnen und -sänger ein von der Gesamtbevölkerung eklatant abweichendes Profil vorweisen. Es gebe wenig Hauptschüler, dafür einen überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad. Insgesamt 82 Prozent der Befragten konnten der erwerbstätigen Bevölkerung zugerechnet werden. Lediglich 2,7 Prozent gaben an, entweder arbeitslos oder noch nie berufstätig gewesen zu sein.
Engagement und Erwartung
Das gemeinschaftliche Singen sei heute nicht mehr unmittelbarer Teil und Ausdruck des gesellschaftlichen und geselligen Lebens, stellte der Musikwissenschaftler Habakuk Traber vor zwei Jahren fest. "Es entspringt persönlichem Engagement, beruht auf einer individuellen Entscheidung, die sich mit einer bestimmten Ergebniserwartung verbindet." Was manchen wundert: Die Zahl von Kinder- und Jugendchören ist am stärksten gewachsen.
Singen als Hobby
Junge Menschen entschieden sich ganz bewusst dafür, den Gesang als Hobby zu betreiben, erklärt Moritz Puschke, Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands, der DW. Sie sagen: "Wir wollen einen guten Chorleiter, schöne Konzertorte, Stimmbildung, Wettbewerbe und Tourneen." Das seien oft Chöre, die dann auch im Repertoire die Besonderheit suchen. Ein Song von Prince sei genauso selbstverständlich wie ein Werk von Monteverdi!
Qual der Wahl
Wer in Deutschland nicht nur unter der Dusche singen will, hat die Qual der Wahl. "Soll es ein kleiner oder großer Chor sein? Klassik, Pop, Rock, Jazz, Gospel oder Weltmusik? Und wie viel Zeit darf fürs Singen draufgehen?", fragt Heribert Allen, Ehrenpräsident des Verbandes Deutscher Konzertchöre.
Und er fügt hinzu: "Rund fünf Konzerte jährlich, mehr als zwei Stunden Probe wöchentlich und zusätzliche Aktivitäten der Chormitglieder ergeben einen Freizeitaufwand von 145 Stunden im Jahr je Sängerin und Sänger, die damit mehr als fünf Prozent ihrer verfügbaren Freizeit verbringen." Ohne diesen beträchtlichen Einsatz seien viele kulturelle Veranstaltungen in Deutschland nicht möglich.
Mehr Qualität
Singen und Musizieren ist in Deutschland, gemessen an der Zahl der Ausübenden und an der dafür aufgewendeten Zeit, nach Spiel und Sport die bedeutendste Form aktiver Freizeitgestaltung. "Das Leistungsbewusstsein und die Anforderungen sind allerdings weiter gestiegen. Denn die Zuhörer setzen immer professionelle Maßstäbe. Sie vergleichen mit kommerziellen Aufnahmen", sagt Moritz Puschke der DW. Die Konsequenz: Die Qualität von Sängern und Chören in Deutschland steigt.
Positiver Trend
Der schöne Trend gehe weiter, so der Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands mit Blick auf die Alterspyramide: "In den letzten fünf Jahren verzeichnen wir eine Null in der Mitgliederentwicklung. Das ist positiv! Wir kompensieren den Anteil wegsterbender Chöre tatsächlich durch nachwachsende Kinder- und Jugendliche, leistungsfähige Kammerchöre und Vokalensembles sowie Jazz- und Popchöre."
Die mit dem gemeinsamen Singen verbundene geistige, kulturelle, gemeinnützige und Völker verbindende Dimension bleibt das herausragende Merkmal des Chorgesangs in Deutschland. Doch Musikwissenschaftler Habakuk Traber warnte bereits im Oktober 2010: "Heute muss sich die Chorszene in Deutschland mit einer neuen Situation auseinandersetzen, denn in den großen Städten und Ballungsgebieten besteht die junge Generation – und damit der potenzielle Chornachwuchs – zu einem großen Teil aus Kindern mit Migrationshintergrund." Diese soziale und kulturelle Umschichtung werde die wichtigste Herausforderung für die Zukunft des Chorgesangs in Deutschland. Daran hat sich wenig geändert.