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Sierens China: Kehrwochen

Frank Sieren, Peking5. März 2016

Dass China Überkapazitäten hat, liegt nicht nur daran, dass maßlos geplant wurde, sondern auch daran, dass China moderner wird. Chinas Wirtschaft wird daran nicht zerbrechen, meint DW-Kolumnist Frank Sieren.

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China Kohlenindustrie (Bild: picture-alliance/dpa/H. Guolin)
Bild: picture-alliance/dpa/H. Guolin

Für tausend Kohlewerke in China ist nun Schicht im Schacht. Sie sollen noch in diesem Jahr dichtgemacht werden. Peking greift durch und beschleunigt damit die Modernisierung Chinas. Dabei geht es nicht nur um die Kohlekumpel. Fünf bis sechs Millionen Arbeitsplätze sollen in veralteten Staatsbetrieben wegfallen. Diese Betriebe beschäftigen trotz Verlusten immer noch viele Arbeiter und produzieren, obwohl sie nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Aber Entlassungen sind nicht der einzige Weg.

Damit der Umbau der Wirtschaft nicht zu heftig wird, dürfen chinesische Stahlhersteller ihre Produkte vom Staat subventioniert zu Billigpreisen auf dem Weltmarkt anbieten. Damit exportieren sie das Problem. Nun sind Arbeitsplätze am anderen Ende der Welt in Gefahr. Erst Ende Februar haben in Brüssel tausende Arbeiter und ihre Manager gegen den chinesischen Billigstahl demonstriert. Peking lässt das kalt. Denn der Einschnitt in China ist auch so schon schwierig genug. Allein in der Kohle- und Stahlindustrie fallen rund 1,8 Millionen Jobs weg. Das sind etwa jeweils 15 Prozent der Arbeitsplätze in diesen Branchen. Seit gut zwei Jahrzehnten gab es keinen so umfassenden Stellenabbau mehr.

Millionen Tonnen Überkapazitäten

Doch anders lassen sich die Überkapazitäten von immerhin 60 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr nicht zurückfahren. Weitere 500 Millionen Tonnen sollen in den nächsten drei bis fünf Jahren folgen. In der Stahlindustrie sind die Überkapazitäten zwischen 2008 und 2014 von 132 Millionen auf 327 Millionen Tonnen gestiegen. Auch Reformen in anderen Branchen sind längst überfällig. Die Zementhersteller verdoppelten ihre Produktion im gleichen Zeitraum von 450 Millionen auf knapp 850 Millionen Tonnen. Öl-Raffinerien verdreifachten ihren Ausstoß sogar auf 230 Millionen Tonnen.

Frank Sieren *PROVISORISCH* (Foto: Marc Tirl)
DW-Korrespondent Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Doch so dramatisch, wie das auf den ersten Blick scheint, ist es gar nicht. Im Gegenteil: Es ist ganz normal für Länder, die moderner werden, arbeitsintensive und umweltverschmutzende Industrien abzubauen. Auch Deutschland war gezwungen und musste seine Kohleindustrie einstampfen. Zusammengebrochen ist Deutschland daran nicht. 2014 wurden insgesamt nur noch knapp 7,6 Millionen Tonnen Steinkohle in Deutschland gefördert. Ein Einbruch um 70 Prozent in zwanzig Jahren. 1960 arbeiteten noch knapp 17.000 Kumpel unter Tage. Heute sind es gerademal noch 913. Eine noch dramatischere Entwicklung durchlief Deutschland in der Elektro- und vor allem in der Textilindustrie. Zwischen 1955 bis 1980 gingen im Textilbereich über 400.000 Arbeitsplätze verloren.

Vergleichbare Prozesse in Deutschland

Deutschlands Wirtschaft wurde dadurch nicht schwächer. Im Gegenteil: Sie wurde wettbewerbsfähiger. Das wird in China nicht anders sein. Nur dass der Prozess dort sehr viel komplexer und deshalb langwieriger ist. Wie die Bundesregierung damals, muss auch die chinesische Regierung darauf achten, dass der Umbau nicht zu abrupt stattfindet. Deswegen wurde die Kohleindustrie über Jahrzehnte hinweg subventioniert. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen. Ständig werden Jobs in nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien abgebaut, während an anderer Stelle neue entstehen.

Gerade in diesen Tagen geht es wieder um die Frage, zu welchen Lohnniveaus in der Metall- und Elektroindustrie in Deutschland noch wettbewerbsfähig produziert werden kann. Die Arbeitnehmer wollen fünf Prozent mehr Lohn. Die Arbeitgeber sagen, dass diese Steigerung die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schmälert. Die Erfahrung in Deutschland hat eines jedenfalls gezeigt: Je früher man mit dem Umbau einer Wirtschaft beginnt, je schneller man erkennt, wo man noch wettbewerbsfähig produzieren kann und wo nicht, desto billiger wird der gesamte Umbau. Peking hat sich dabei unter den vorherigen Regierungen sehr viel Zeit gelassen, deshalb ist das Problem nun dringender denn je.

Kräftespiel zwischen Peking und Provinzen

Gerade Regionen, die komplett von ihrer Kohle- oder Stahlindustrie abhängig sind, unternehmen alles, um die in Peking beschlossenen Fabrikschließungen zu umgehen. Dieses Spiel funktioniert zwischen Peking und seinen Provinzen nicht viel anders als zwischen Brüssel und den EU-Mitgliedstaaten. Kommt es hart auf hart, ist sich jeder selbst am nächsten. Anders als Brüssel ist die Regierung in Peking jedoch entschlossener denn je. Umgerechnet 14 Milliarden Euro wird sie in den kommenden zwei Jahren bereitstellen, um die Arbeiter auszuzahlen und die Schulden der Fabriken zu begleichen. Das ist eine gute Investition.

Unser Korrespondent Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.