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Politik

Sierens China: Eingeimpftes Misstrauen

Frank Sieren
1. August 2018

Hunderttausenden Kindern sollen in China wirkungslose Impfstoffe verabreicht worden sein. Skandale um Medikamente und Nahrungsmittel haben in China eine größere Sprengkraft als Trumps Handelskrieg, meint Frank Sieren.

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Kinderimpfungen in China
Bild: picture-alliance/Photoshot

In Peking herrscht Krisenstimmung: China müsse sich "das Gift endlich von den Knochen kratzen", erklärte Xi Jinping der Presse. So martialisch hört man den chinesischen Staats-und Parteichef selten. Sein Premier Li Keqiang pflichtete ihm bei: "Die Linie der menschlichen Ethik ist überschritten", so Li. Das Problem, das die beiden ausbaden müssen, ist gewaltig, und es hat ausnahmsweise nichts mit Donald Trump und dem von ihm entfesselten Handelsstreit zu tun.

Unbrauchbare Impfstoffe

China wird in diesen Wochen von einem Impfstoff-Skandal erschüttert, der die öffentlichen Debatten beherrscht wie lange kein Thema mehr. Kein Wunder: Möglicherweise sind Hunderttausende Kinder davon betroffen. In den vergangenen Tagen sickerten immer mehr Details an die Öffentlichkeit: Zuerst gab die chinesische Arzneimittel-Aufsichtsbehörde bekannt, dass der Pharmakonzern Changchun Changsheng Biotech Unterlagen zur Herstellung und Qualitätskontrolle von Impfstoffen gegen Tollwut gefälscht haben soll, einer Infektion, die bei Kindern schnell tödlich verlaufen kann. Was die Öffentlichkeit ebenfalls erst jetzt erfuhr: Inspektoren hatten schon vergangenes Jahr aufgedeckt, dass Changsheng, aber auch andere Unternehmen wie das Wuhaner Institut für biologische Produkte, minderwertige und unbrauchbare Kombi-Impfstoffe gegen Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus in Umlauf gebracht hatten. Allein im Oktober 2017 seien 650.000 unwirksame Impfstoffe auf den Markt gekommen, die vor allem Kindern injiziert wurden. Die Sorge in der chinesischen Bevölkerung ist nun groß, zumal aufgrund widersprüchlicher Nachrichten noch immer nicht ganz klar ist, ob die Impfungen, von denen viele bei chinesischen Babys ab drei Monaten routinemäßig verabreicht werden, "nur" wirkungslos oder sogar gefährlich sind. Immerhin: Bei über 200.000 Säuglingen zeigten die Impfungen bislang keine Nebenwirkungen. Trotzdem sitzt der Schock bei diesem Thema tief, das sprichwörtlich bis unter die Haut geht.

China Hongkong Milch wird aus Regalen geräumt
Der Melamin-Skandal von 2008 hat viele Chinesen bis heute misstrauisch gemachtBild: AP

Auch die Wut kocht einmal mehr hoch, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass Chinas Gesundheitsindustrie ebenso wie die Aufsichtsbehörden, die diese kontrollieren sollten, das Vertrauen der Bevölkerung auf eine harte Probe stellen. Der erschütterndste Skandal passierte 2008: Über 300.000 Kleinkinder erkrankten durch Milchpulver, das chinesische Hersteller mit dem Kunststoffvorprodukt Melamin gepanscht hatten, um den Proteingehalt zu erhöhen. Sechs starben sogar an den Folgen. Der Fall zog Todesstrafen nach sich, was als Warnung aber offenbar nicht ausreichte. Die Skandale rissen nicht ab: 2012 verwendeten Dutzende Pharmafirmen für Millionen Medizinkapseln Gelatine, die hohe Mengen Chrom enthielt. Vor zwei Jahren brachten chinesische Firmen falsch gelagerte und abgelaufene Impfstoffe in großen Mengen in Umlauf, bevor sie aufflogen und verhaftet wurden. Und erst diesen Monat sickerte durch, dass die chinesische Firma Zhejiang Huahai Pharmaceutical ein Blutdruck-Medikament im Angebot hat, das mit einer potenziell krebserregenden Substanz verunreinigt ist.

Ein wiederkehrendes Problem

Xi bekommt das Thema nicht richtig in den Griff. Die Kontrollen seiner Behörden sind zu lasch, Gier und Korruption trotz seiner drakonischen Antikorruptionskampagne noch immer zu verbreitet. Mit einer bereits im November unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhängten Geldstrafe in Höhe von 3,4 Millionen Yuan (507.000 Euro) gegen Changsheng erwies sich die Regierung einen Bärendienst. Für die Bevölkerung wirkt es so, als sollte die Sache so schnell wie möglich unter den Teppich gekehrt werden. Zumal die Summe angesichts des Unternehmens-Gewinns im Jahr 2017 in Höhe von umgerechnet 72 Millionen Euro gering erscheint und der Hersteller offenbar auch staatliche Subventionen in Höhe von rund sechs Millionen Euro erhalten hat. Im Internet machten viele Chinesen ihrer Wut Luft. Dort kursierten Fotos, die den Medikamentenhersteller und seine Frau in teuren Autos und bei Hubschrauberflügen in der Schweiz zeigen. Die staatliche Internetzensur kam mit dem Löschen kaum hinterher. Sogar die staatliche "Global Times" sprach von einem "Tsunami" und nannte die Geldstrafe "symbolisch".

Peking versucht der Hilflosigkeit in der Bevölkerung mit Null-Toleranz-Gebahren entgegenzusteuern. Regierungschef Li kündigte die Bildung einer Untersuchungskommission an, um die korrupten Strukturen in der Pharmabranche zu entfilzen.

Die Produktion des börsennotierten Familienunternehmens Changchun Changsheng wurde bereits gestoppt, 18 Haftbefehle erlassen. Die Vorstandsvorsitzende Gao Junfang wurde zusammen mit einigen ihrer Mitarbeiter festgenommen. Sie dürften für lange Zeit ins Gefängnis wandern, während die Geschäfte von Changsheng aller Voraussicht nach abgewickelt werden. Seitdem erste Hinweise auf die Affäre nach außen drangen, hat der Aktienkurs des Unternehmens um mehr als 60 Prozent nachgegeben. Ein größeres Minus ist auch kaum möglich, da laut chinesischen Börsenregeln ein Papier maximal zehn Prozent pro Tag fallen kann.

Eine Branche in Verruf

Schmerzhafte Konsequenzen hat der Skandal nun auch für andere Pharmakonzerne, die nicht in den Skandal verwickelt sind. So stürzten die Aktienkurse der größten chinesischen Impfstoffhersteller Walvax Biotechnology, Shenzhen Kangtai und Chongqing Zhifei an der Börse in Shenzhen um bis zehn Prozent ab.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Dabei gehört der Pharmasektor des Landes zu den Bereichen, die Peking mit seiner Strategie „Made in China 2025” eigentlich besonders fördern wollte. Die heimischen Hersteller sollten demnach schnellstmöglich die Lücke zum Westen schließen und eigene Weltmarktführer hervorbringen. Daraus wird nun erstmal nichts. Nach dem jüngsten Impfstoff-Skandal gilt nun mehr denn je, dass Chinas Pharmaindustrie noch viel Arbeit vor sich hat. Ausländische Hersteller wie etwa Bayer dürften dagegen profitieren, denn chinesische Konsumenten haben ein langes Gedächtnis. Auch zehn Jahre nach dem Melamin-Skandal kaufen viele Chinesen ihr Milchpulver noch immer im Ausland. Wer es sich leisten kann, fährt für Impfungen in die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao. Dort fürchtet man nun eine neue Welle von Impftouristen. Auch das ist sozialer Zündstoff. Viele Chinesen, gerade aus der immer größer und selbstbewusster werdenden Mittelschicht, murren zu Recht, dass ein gesundes Leben kein Privileg der Reichen sein sollte. Das verlorene Vertrauen in der Bevölkerung wieder herzustellen, wird eine große Herausforderung für Peking werden. Drakonische Strafen reichen dabei nicht aus. Die Regierung muss den Unmut der Bürger früher erkennen und auch früher für Transparenz sorgen – sonst macht sich die Wut in Aufruhr Luft. Den Menschen fehlt schließlich das Ventil freier Wahlen. Und ein Skandal wie dieser wird so schneller zum Brandherd als jeder Handelskrieg.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.