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Gesellschaft

Ein Täter und ein Engel von Dachau

Katarzyna Domagala-Pereira | Bartosz Dudek
29. April 2020

Beide tragen den gleichen Vornamen, Heinrich. Einer ist Täter, der andere "Engel". Im Lagerinferno von Dachau kreuzen sich ihre Wege mit dem eines polnischen Klerikers, der sich nach dem Krieg für Versöhnung einsetzt.

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KZ-Gedenkstätte Dachau
KZ-Gedenkstätte DachauBild: picture-alliance/dpa/T. Hase

Feldafing am Starnberger See, 36 km von München entfernt. Wir suchen nach Spuren von Heinrich Schütz, dem ehemaligen SS-Arzt, der hier nach seinem Strafprozess wohnte. Wegen Beihilfe zum Mord an elf Personen und einem versuchten Mord wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt. So viel konnte man ihm nachweisen, doch es gab viel mehr Opfer. Schütz tötete Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, indem er pseudomedizinische Versuche an ihnen durchführte.

Im kleinen Feldafing weiß niemand davon, obwohl sich manche an Schütz erinnern. Eine ehemalige Nachbarin pflegt sein Grab. Ob sie wusste, dass er verurteilt wurde? "Das ist unmöglich", sagt sie. "Er war ein guter Mensch, immer nett, liebenswürdig". Das, was sie von uns erfährt, ist "schockierend", wiederholt sie mehrmals.

Feldafing, Panorama
Feldafing am Starnberger SeeBild: DW/K. Domagała-Pereira

Vernichtung des Klerus

September 1939. Der 23-jährige Kazimierz Majdański steht kurz vor dem Abschluss des Theologiestudiums am Priesterseminar im polnischen Włocławek. Die deutschen Besatzer beginnen systematisch die polnische Intelligenz, darunter auch Geistliche und angehende Priester, zu verhaften. Auch Majdański kommt ins KZ Sachsenhausen, später nach Dachau.

Ab 1940 werden dort mehr als 2700 Geistliche christlicher Konfessionen aus ganz Europa eingesperrt. Über 1700 sind Polen, die Hälfte wird das Lager nicht überleben.

Im Frühling 1940 kommt auch der SS-Arzt Heinrich Schütz nach Dachau, zwei Jahre später leitet er bereits die Abteilung für innere Medizin des Lagerkrankenhauses. "Mit unermüdlichem Fleiß und äußerster Zuverlässigkeit", wie man bei seiner Beförderung zum SS-Sturmbannführer (Major, Anm. d. Red.) anmerkt.

SS-Arzt Heinrich Schütz (ca. 1935)
SS-Arzt Heinrich SchützBild: Staatsarchiv München

Dachau ist ein Zentrum pseudomedizinischer Versuche. Man infiziert Häftlinge gezielt mit Malaria oder Fleckfieber, testet an ihnen Unterkühlung und Unterdruck. Schütz verantwortet die Versuche mit Sepsis und Phlegmonen, eitrigen Entzündungen. In der Behandlung sollen biochemische Mittel angewandt werden, die schon damals als unwirksam gelten. In Dachau testet man sie überwiegend an Priestern. Sie sind relativ gesund, behaupten die SS-Ärzte und erwarten ein klares Bild von der Wirkung. 

Das Experiment

November 1942. Im Krankenrevier kreuzen sich die Wege von Kazimierz Majdański und Heinrich Schütz. 20 Priester werden für ein Experiment ausgewählt. Sie ziehen Lose mit den Buchstaben A oder B. Dann spritzen ihnen Ärzte wie Schütz Eiter ein. Einige sterben innerhalb von 24 Stunden. Diejenigen, die die ersten Tage überleben, werden behandelt: Gruppe A mit einem wirksamen Sulfonamid Tibatin, Gruppe B auf biochemische Art.

Kazimierz Majdański ist in der zweiten Gruppe. Allmählich verliert er seine Kräfte. Die Phlegmone entwickeln sich, stellt eine Kommission fest, die regelmäßig die Versuchsstation besucht. Heinrich Schütz ist das wichtigste Mitglied der Kommission. Als erster nähert er sich den Patienten, stellt den Krankenpflegern Fragen, diktiert ein genaues Protokoll. Er weiß, dass die Häftlinge sterben werden, rettet aber nicht ihr Leben. Sie sind für ihn nur Versuchskaninchen.

Sepsis- und Phlegmoneversuche in KL Dachau
Pseudomedizinische Versuche im Lagerkrankenhaus DachauBild: USHMM/courtesy of Maria Seidenberger

SS-Männer, die durch den Raum gehen, schauen entsetzt von den vergilbten Körpern der Patienten weg. Eiter fließt aus ihren Wunden. Einigen amputiert man Gliedmaßen. Sie sterben langsam, unter unmenschlichen Qualen. Auch Kazimierz Majdański soll sterben.

Der Engel von Dachau

"In Dachau habe ich Menschen und Bestien gesehen. Bestien waren diejenigen, die ihre Menschlichkeit verloren haben", sagt Majdański 1995 in einem DW-Interview.

Auf der Versuchsstation arbeiten als Pfleger deutsche politische Häftlinge, vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten. Unter ihnen ist der Oberpfleger Heinrich Stöhr, von Häftlingen "Heini" genannt. Majdański wird sich an sein fürsorgliches Lächeln erinnern, wenn Heini ihn nach schmerzhaften Operationen weckt. Von ihm hört der junge Geistliche, dass ihm Sepsis, eine gefährliche Blutvergiftung, droht. "Ich will dich retten", sagt Heini. Insgeheim gibt er Majdański eine Reihe von Tibatin-Spritzen. Stöhr rettet auch andere.

Instytut Swietej Rodziny - Kazimierz Majdanski (1916-2007) Jugendphoto
Kazimierz Majdański (1916-2007), KZ-Häftling und Vorreiter der deutsch-polnischen VersöhnungBild: Instytut Swietej Rodziny

Majdański erlebt die Befreiung des Lagers am 29. April 1945. Dieses Datum wird in seinem Leben immer wieder wichtige Etappen markieren. Genau 30 Jahre später erteilen die kommunistischen Behörden in Polen die Erlaubnis, sein Lebenswerk zu schaffen - das Familieninstitut an der Theologischen Akademie in Warschau, bis heute bestehend. Das Lagerinferno wird jedoch zeit seines Lebens in Albträumen zurückkehren.

Der Prominentenarzt aus Essen

Nach dem Krieg wohnt der ehemalige SS-Sturmbannführer Heinrich Schütz in Essen-Bredeney. Der Internist hat eine Arztpraxis in der besten Gegend. Zu seinen Patienten zählen wohlhabende Industrielle und Bänker mit ihren Familien. Er selbst ist Mitglied im exklusiven Rotary Club.

Als Schütz seine Arztkarriere in Essen beginnt, finden in Nürnberg Prozesse gegen Verbrecher des Dritten Reiches statt. Zeuge ist auch der ehemalige Oberpfleger Heini, der mehrmals auf den Leiter der Sepsis-Versuche hinweist. Niemand interessiert sich jedoch für den ehemaligen SS-Arzt. Die nächsten 25 Jahre führt der Täter von Dachau ein ruhiges Leben im Ruhrgebiet und gründet eine Familie mit vier Kindern.

Schuld ohne Sühne

Erst 1966 beginnt ein Verfahren gegen Schütz. Fünf Jahre später wird er verhaftet. In Untersuchungshaft verbringt er nur zwei Monate. Eine Privatbank aus Essen - Burkhardt & Co. - zahlt eine hohe Kaution von damals 250.000 DM, damit Schütz auf freien Fuß gesetzt wird. 

Im Oktober 1975 beginnt der Prozess vor dem Landgericht München. Er "tötete, weil ihm das Leben der Versuchspersonen unnütz und wertlos erschien", "fügte seinen Opfern aus gefühlloser, unbarmherziger und vom Rassenwahn getragener Gesinnung besondere Qualen und Schmerzen zu", lautet die Anklageschrift.

Dr. Heinrich Schütz 1975
Dr. Heinrich Schütz, 1975Bild: picture-alliance/dpa

Das Urteil fällt nach fünf Wochen: 10 Jahre Haft. Es wird auch rechtskräftig, aber Schütz muss keinen einzigen Tag büßen. Ärzte bestätigen, dass er krank und nicht haftfähig ist.

Anstatt ins Gefängnis zu gehen, zieht er mit seiner Familie nach Feldafing um, nur 50 km von Dachau entfernt. Dort kennt niemand seine Vergangenheit. Schütz fällt nicht auf. Er lebt am Rande des Dorfes, ist meistens zu Hause, geht manchmal spazieren. Der ehemalige SS-Arzt stirbt 1986 mit 80 Jahren.

Endlich in die Augen sehen!

Zu diesem Zeitpunkt ist Majdański bereits Bischof der Diözese Szczecin (Stettin) im Nordwesten Polens, Theologie-Professor und Mitglied wichtiger Gremien des Vatikan. Im Herbst 1975 traf er seinen Folterer im Münchener Gerichtssaal. In einer Geste der Vergebung reicht Bischof Majdański Schütz die Hand. "Dr. Schütz wollte meine Hand nicht wieder loslassen, als ich ihm im Gerichtssaal sagte: 'Endlich können wir uns in die Augen sehen!' Und Schütz flüsterte: 'Ich musste es tun, aber ich tat weniger, als verlangt wurde'.

"Ist ein Verbrecher nicht eines der ärmsten Wesen unter der Sonne?", schreibt Majdański in seinen Memoiren. "Diese Frage beschäftigte ihn bis zum Ende", ist sich Danuta Bazyluk, ehemalige Assistentin des Erzbischofs, sicher.

Wir wollen die Kinder von Schütz fragen, ob ihr Vater über diese bewegende Szene der Vergebung gesprochen hat? Hat er seine Taten jemals bereut? Die Kinder wollen jedoch schweigen und lassen mitteilen, dass man den Verstorbenen ruhen lassen soll. Die Vergangenheit vergangen sein lassen. Vergessen.

Versöhnung

Ganz anders als im Falle seines Namensvetters Heinrich Stöhr. Der ehemalige Häftlingspfleger ist nach dem Krieg ein aktiver SPD-Politiker, Abgeordneter des bayerischen Landtags, engagiert in sozialen Angelegenheiten. Mit seiner Frau setzt er sich für die Errichtung eines Alten- und Pflegeheims in Weißenburg ein, das später nach beiden benannt wurde. Eine Straße trägt sogar den Namen des "Engels" von Dachau.

Kazimierz Majdanski
Erzbischof Kazimierz Majdański, 1987Bild: picture-alliance/PAP/A. Hawalej

Nach dem Krieg gelingt es Bischof Majdański nicht, persönlich seinem Retter zu danken. "Heini" stirbt 1958. Seine Nichte Irmgard Forster erinnert sich aber, dass der Bischof das Grab besucht hat. Auf dem Grabstein steht: "Euer Leben war Kampf, euer Wirken Güte, unvergleichbar eure Menschenliebe".

Heini glaubte an die Menschen, so wie Kazimierz Majdański. Der Bischof wird zum Verfechter von Frieden und Versöhnung. Im November 1965 unterschreibt er den berühmten Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung". Mit diesem Brief beginnt der Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung. Sowohl privat als auch öffentlich setzt Kazimierz Majdański Zeichen: In der Kathedrale von Szczecin (Stettin) besuchen ihn oft befreundete deutsche Bischöfe, mit denen er gemeinsam Gottesdienste feiert und sie gastfreundlich empfängt.

Erzbischof Majdański stirbt am 29. April 2007, am Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau. Seine engsten Mitarbeiter sind sich sicher: Kazimierz Majdański betete zeit seines Lebens für Heini Stöhr, seinen Engel von Dachau. Und für den Täter Heinrich Schütz.

Aus der Reportage-Reihe "Schuld ohne Sühne". Ein Projekt von DW-Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska: dw.com/zbrodniabezkary

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.
Porträt eines Mannes, der eine Brille trägt
Bartosz Dudek Redakteur und Autor der DW Programs for Europe