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"Schrei laut" - Gewalt gegen Frauen in der Türkei

Ulrike Mast-Kirschning25. November 2005

Nein zu Gewalt an Frauen - dies ist nicht nur der Appell zum UN-Gedenk-Tag am 25. November, sondern auch eine Forderung der EU an die Türkei. Der Veränderungsprozess ist ins Stocken geraten.

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Beim Internationalen Frauentag in IstanbulBild: AP

"Gewalt ist eine Folge der patriarchischen Einstellung. Dazu gehört auch die Gewalt in der Familie. Wir sehen auch einen Zusammenhang mit militaristischer Gewalt. Wenn die Gewalttaten nicht in die Öffentlichkeit gelangen merken wir sie gar nicht, aber wir sollten aufmerksamer sein für die Gewalt in der Gesellschaft und darüber erzählen können. Das Motto einer Kampagne der Frauenbewegung seit 20 Jahren heißt 'Schrei laut' - aber alle schämen sich, wenn sie so was erleben. Wir sagen den Frauen, egal was ihr erlebt, Prügelei, Vergewaltigung oder Belästigung, sprecht laut darüber."

Dieser Wunsch einer Sprecherin von Amargie, einer kleinen aber sehr aktiven NGO in Istanbul hat den Aktivistinnen schon viel Ärger eingebracht. Demnächst werden sich sogar einige vor Gericht verantworten müssen, weil Sie in einer Provinzstadt im Nordosten der Türkei für ihre Ziele demonstrieren wollten.

Gesetze in den Köpfen

Galerie Türkei Türkische Mädchen in einem Park in Istanbul
Türkische Mädchen in einem Park in IstanbulBild: AP

Gewalt - so die nahezu einhellige Stimme vieler Frauenorganisationen ist weiterhin das größte Problem der Frauen in der Türkei - ganz gleich in welcher Region des Landes sie leben. Dabei geht es meist um Begriffe des patriarchischen Weltbildes wie Keuschheit und Ehre, öffentliche Moral und gesellschaftliche Traditionen, Schande oder unsittliches Verhalten. Alle diese Begriffe wurden inzwischen aus dem türkischen Strafgesetzbuch entfernt. In vielen Köpfen, auch in denen von Staatsanwälten, Richtern und Politikern, ist all das gleichwohl noch vorhanden.

Trotz des Lobes für die neuen Gesetze reklamierte der UN-Frauenrechtsausschuss bei der türkischen Regierung eine Umsetzungsstrategie, wie Feride Acar. Sie ist Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin an der Technischen Universität in Ankara und war bis vor einigen Monaten Vorsitzende des Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW) bei der UN. "Die Gewalt gegen Frauen in der türkischen Gesellschaft", sagt sie, "ist überall". Dass es, wie manche Studien sagen, 87 Prozent der türkischen Frauen sind, die selbst körperliche oder psychische Gewalt erlebt haben, hält sie für zu hoch. Die bisherigen Studien seien dazu nicht aussagekräftig genug. Aber 60 Prozent, das scheint ihr realistisch.

Flucht vor Ehrenmord

Galerie Türkei Flagge und Kemal Atatuerk
Eine türkische Fahne und eine Abbildung des Staatsgründers Kemal AtatürkBild: AP

Ohnehin ist für die Opfer jede Prozentzahl zu hoch, und die Folgen der Gewalt sind vielfach dramatisch. Frauen, die in der Türkei von Ehrenmord bedroht sind, müssen aus ihrer gewohnten Umgebung schnellstens verschwinden - irgendwohin, wo sie niemand kennt. Notruftelefone oder Frauenhäuser, in die sie sich flüchten könnten, gibt es aber kaum. Das Gesetz verlangt ein Frauenhaus pro 50.000 Einwohner - aber bis es die gibt, wird wohl noch viel Wasser den Bosporus hinunterfließen.

Immerhin gibt es in Istanbul eine Anlaufadresse. Mor Cati, das erste autonome Frauenhaus in der Türkei, hatte zwar sein Haus kürzlich schließen müssen, weil es drohte einzustürzen - aber die Beratungsstelle arbeitete weiter. Frauen aus allen sozialen Schichten suchen hier Unterstützung. Die ehrenamtliche türkische Mitarbeiterin von Mor Cati, die bis vor kurzem in Deutschland gelebt hat und wie die anderen Mor Cati-Frauen anonym bleiben möchte, schildert einen aktuellen Fall. Sie betreut eine Frau, die sich scheiden lassen will, aber der Mann will keinen Unterhalt für sie und ihr Kind zahlen. Jetzt hat sie keine Unterkunft mehr. Was also tun bis zum Scheidungstermin - vorübergehend zurück in die Wohnung des prügelnden Ehemanns oder eine andere Lösung suchen?

Immerhin kann Mor Cati jetzt wieder ein Bett im Frauenhaus anbieten. Die Gemeinde im Istanbuler Stadtteil Beyoglu hatte ein Haus renoviert und der Frauenorganisation angeboten, es im Auftrag der Gemeinde zu betreiben. Die Beraterin sieht auch noch eine andere, mögliche Lösung: die Anwendung des Paragrafen 4320 im Zivilgesetzbuch: "Danach wird, wer Gewalt ausübt, aus der Wohnung entfernt - auch in Deutschland gibt es ein solches Gesetz - denn in der Praxis erleben wir sehr viele Probleme. Wir wollen das bekannt machen, damit die Frauen das Gesetz für sich anwenden können und damit sie wissen, nach dem Gesetz sind sie geschützt."

Ein Thema, mehr nicht

"Die Polizei hat unsere Telefonnummer", versichert die Frauenhaus-Mitarbeiterin - im Einsatzfall rufen die uns an. Die Kampagne, die das Gesetz besser bekannt machen soll, bereitet die als Stiftung organisierte NGO gerade vor. Aber um die Polizisten, Rechtsanwälte und Psychologen zu trainieren - damit vor allem sie das Gesetz in der 17-Millionen-Stadt Istanbul richtig anwenden, dazu fehlen den Aktivistinnen von Mor Cati einfach die Möglichkeiten.

Nach dem Militärputsch 1980 haben sich vor allem in den türkischen Städten zahlreiche Frauenorganisationen gegründet. In Initiativen und Aktionen versuchen sie seit 20 Jahren die Geschlechterdiskriminierung in der türkischen Gesellschaft zu überwinden.

Ihnen und nicht etwa der politischen Führung ist es zu verdanken, meint Professor Feride Acar, das die Gewalt gegen Frauen ins Licht der türkischen Öffentlichkeit gerückt wurde. "Es ist ein neues Phänomen in der Türkei, dass jetzt immer mehr darüber gesprochen wird. Es gibt jetzt mehr Konsens, die Medien machen die Gewalt zum Thema. Die Frauengruppen sind sehr aktiv, vor allem wenn es darum geht, die Rechtssetzung und die Umsetzung voran zu bringen. Trotzdem ist es immer noch weit entfernt von einem befriedigenden Zustand - weder was die Gesetzgebung betrifft, noch deren Umsetzung." Mehr Zeit und mehr Erfolge müsste es geben. Und letztlich würde es nicht reichen, wenn die Frauengruppen und die Medien allein aktiv sind. Wichtig wären vergleichbare Aktivitäten bei den politischen Führern.