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Politik

Säcke voller Menschenknochen

Juri Rescheto
30. Oktober 2019

In Sibirien findet ein Mann im Garten ein Massengrab mit Stalin-Opfern. Doch die Behörden lassen ihn allein. Mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit tut sich Russland schwer. Von Juri Rescheto, Blagoweschtschensk.

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Schädel mit Einschussloch aus einem Massengrab in Blagoweschensk
Massengrab in Blagoweschensk: Schädel mit EinschusslochBild: DW

Makabrer Knochenfund

Die weißen Mehlsäcke fallen im ebenfalls weißen Neuschnee kaum auf. Von außen lässt nichts auf ihren grausigen Inhalt schließen. Die Säcke stehen neben einem Erdloch. Gegraben hat es Witalij Kwascha in seinem Garten. Soeben holt er drei lange Knochen aus der Erde. Und einen Schädel. Mit dem Finger zeigt er auf eine Stelle im Schädel: ein Einschussloch.

Seit dem Wintereinbruch falle ihm das Graben zunehmend schwer, erzählt Kwascha nüchtern: "Wenn ich mich nicht beeile, friert die Erde noch fester. Aber ich brauche ja nicht mehr lange zu graben. Ein paar Meter weiter endet mein Grundstück. An der Grenze zum Nachbarn ist Schluss. Dann kippe ich einfach eine Betondecke drüber."

Als Witalij Kwascha vor ein paar Monaten sein Haus erweitern wollte, fing er an, eine Grube für das Fundament zu graben. Er machte dabei eine grausame Entdeckung. Witalij stieß auf Knochen: Schädel, Arme, Beine, Rippen. Immer mehr von ihnen holte er aus dem Erdboden. Mittlerweile stehen mehr als zehn Säcke in seinem Garten - mit den Überresten von mehr als 60 Menschen. "Zuerst grub ich einen Schädel aus, dann einen zweiten, und irgendwann hörte es nicht mehr auf,” erzählt der Mittdreißiger.

Russland Gedenktag der Opfer des Stalin-Regimes
Grausame Entdeckung im Garten: Witalij Kwaschas findet Überreste von mehr als 60 MenschenBild: DW

Unter Kwaschas Garten befindet sich höchstwahrscheinlich ein Massengrab aus den 1930er Jahren, stellen die eilig herbeigerufenen Experten des Staatlichen Ermittlungskommitees fest. Witalij Kwascha lebt mit seiner Familie im Fernen Osten von Russland, in Blagoweschtschensk, an der Grenze zu China. Wie überall im Land kam es auch hier während der Herrschaft Josef Stalins zu Massenerschießungen von Oppositionellen und Regimegegnern. 

Gedenken in Moskau

Achttausend Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Moskau, gedenken die Menschen der Opfer jenes Terrors. Im strömenden Regen stehen sie an, um vor zwei aufgestellten Mikrofonen die Namen ihrer Verwandten vorzulesen. Sie erzählen kurz die Geschichten ihrer Väter und Onkel, Großväter und Großonkel, die Geschichten ihrer Familien, die 1936 bis 1938 von Josef Stalin als mutmaßliche Gegner seines Regimes verfolgt wurden. 

"Mein Großvater wurde verhaftet und gefoltert. Man hat ihn an den Beinen aufgehängt und ihm später die Zähne herausgerissen," ertönt aus den Lautsprechern die aufgeregte Stimme einer älteren Frau. "Mein Opa Wladimir Bukovsky war sechsundsiebzig Jahre alt. Ruhe in Frieden,"  setzt eine andere leise fort. Innerhalb von nur zwei Jahren wurden damals 1,5 Millionen Sowjetbürger verhaftet, mehr als die Hälfte von ihnen getötet.

Russland Gedenktag der Opfer des Stalin-Regimes
Eine Frau liest Namen der Opfer des Stalin-Regimes Bild: DW

"Das ist unsere schreckliche Geschichte, die wir wir niemals vergessen dürfen," warnt Natalia Petrowa vom Menschenrechtsverein Memorial. "Die Rückkehr der Namen" heißt die Aktion, die Memorial vor nunmehr zwölf Jahren ins Leben gerufen hat. Seitdem findet die Trauerfeier jedes Jahr Ende Oktober statt.

"Ich freue mich, dass so viele, auch so viele junge Russen hierherkommen, um an diesen Terror des Sowjetregimes zu erinnern," sagt Petrowa, deren Großvater ebenfalls verfolgt wurde. Auch seinen Namen spricht sie später ins Mikrofon.

Zwiespältiges Gedenken

In einem Zelt werden Grablichter verteilt. Die Menschen stellen sie vor den so genannten Solowetzkij-Stein. Der Stein wurde 1990 aus der Gegend um eines der berüchtigten geheimen Straflager in der Siedlung Solowetzkij hierhergebracht. Inzwischen ist er ein Symbol für die Verbrechen des Stalin-Regimes. Heute liegt der Stein auf dem Lubjanka-Platz, direkt vor dem Gebäude des russischen Geheimdienstes FSB. Dessen Vorgängerorganisation NKWD hatte die so genannten politischen Säuberungen in Stalins Auftrag durchgeführt.

Russland Gedenktag der Opfer des Stalin-Regimes
Natalia Petrowa von der Menschenrechtsorganisation MemorialBild: DW

Dass der Stein ausgerechnet am Lubjanka-Platz liegt, hat für viele Russen eine besondere Symbolkraft. Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der einst selbst den FSB leitete, befürchten einen Rückfall in autoritäre Zeiten mit einer immer stärker werdenden Staatsmacht. An die unbequeme Wahrheit über die Sowjetgeschichte, so scheint es, wird mittlerweile ungern erinnert. Menschen, die versuchen, die Verbrechen von damals ins Gedächtnis zu rufen, werden eingeschüchtert. Das bekommen auch die Mitarbeiter von Memorial zu spüren, klagt Natalia Petrowa: "Vor drei Jahren hat man unsere Nichtregierungsorganisation zu einem so genannten 'ausländischen Agenten' erklärt. Aber wir arbeiten trotzdem weiter, weil sehr viele Menschen unsere Arbeit brauchen. Das ist das Wichtigste."

Von den Behörden alleingelassen

Auch in fernen Blagoweschtschensk berichtet Witalij Kwascha, dass sich die von ihm informierten Behörden nur ungern mit der Geschichte des Landes auseinandersetzen wollten. Immer wieder hat er die Stadt darum gebeten, ihn mit seinem grausamen Fund nicht allein zu lassen: "Ein Jahr lang habe ich die Behörden um Hilfe gebeten. Sie sagten, sie hätten weder Geld noch Personal dafür. Das einzige, was sie mir dann doch versprachen war, dass sie die Überreste abholen kommen. Ausgraben müsse ich sie aber selbst."

Immerhin, mit Hilfe eines privaten Bestattungsunternehmens fand ein kleiner Teil der Opfer inzwischen seine letzte Ruhe - auf dem städtischen Friedhof von Blagoweschtschensk. Witalij Kwascha beklagt aber, dass sie dort nur mit einem kleinen Metallschildchen mit einer eingravierten Nummer beigesetzt wurden. Ohne Namen und ohne Würde.

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Juri Rescheto Studioleiter Riga