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Quo vadis, Erdogan?

1. August 2011

Die innenpolitischen Veränderungsprozesse in der Türkei haben mit dem Rücktritt der kompletten Armeespitze eine neue Dimension erreicht. Ministerpräsident Erdogan hat nun deutlich mehr Macht, sagt Baha Güngör.

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Bild: DW

Der bisherige Generalstabschef Isik Kosaner sorgte zusammen mit den Befehlshabern des Heeres, der Luftwaffe und der Marine am Freitagabend (29.07.2011) für ein innenpolitisches Erdbeben bisher ungekannten Ausmaßes in der Türkei: Sie beantragten geschlossen ihre vorzeitige Pensionierung. Nur Necdet Özel behielt sein Amt. Er ist Oberkommandierender der paramilitärischen Gendarmerie, einer dem Generalstab untergeordneten Teilstreitkraft. Inzwischen wurde er zum neuen Chef des Heeres und zugleich zum kommissarischen Generalstabschef ernannt.

Die Schockwellen der innenpolitischen Erschütterungen in der Türkei werden trotz aller Beschwichtigungsversuche von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül noch lange nicht abebben. Der Oberste Militärrat trat am Montag (01.08.2011) unter Vorsitz Erdogans zusammen. Dabei fehlten erstmals fünf von insgesamt vierzehn Armeegenerälen am Tisch.

Bastion gegen religiösen Einfluss

Zu groß war der Unmut der Armeeführung darüber, dass inzwischen mehr als 250 teilweise ranghohe Offiziere wegen angeblicher Putschpläne gegen Erdogan in Untersuchungshaft sitzen. Sie teilen das Schicksal von Journalisten und Intellektuellen, die seit vielen Monaten und teilweise seit mehr als zwei Jahren inhaftiert sind, ohne zu wissen, was ihnen konkret zur Last gelegt wird.

Schon deshalb sind Zweifel daran angebracht, ob die Freude über den endgültigen Bruch der türkischen Armee ungetrübt bleibt. Denn sie war auch ein Bollwerk gegen die wachsenden Einflüsse der Religion in Staat und Gesellschaft. Die Furcht um die säkulare Grundordnung in der Türkei - basierend auf dem Prinzip des Laizismus, der strikten Trennung von Staat und Religion - greift um sich. Die revolutionäre Modernisierung der türkischen Republik durch ihren Gründer Mustafa Kemal Atatürk und die damit vorgegebene Westorientierung bröckelt.

Ungebremster Alleinherrscher

Baha Güngör (Foto:DW)
Baha Güngör, Leiter der Türkischen RedaktionBild: DW / Baha Güngör

Quo vadis, Erdogan? Was wird der zuletzt mit fast 50 Prozent der Stimmen faktisch zum demokratisch legitimierten Alleinherrscher gewählte Ministerpräsident mit seiner Macht anfangen? Der wachsende Druck auf Andersdenkende, auf kritische Stimmen und auch auf Medien lässt nichts Gutes ahnen. Gelingt es Erdogans Regierungspartei AKP aus den Oppositionsreihen noch eine Handvoll Abgeordnete für sich zu gewinnen, wird Erdogan die Verfassung beliebig ändern und - nach Volksabstimmungen darüber - aus der Türkei eine präsidiale Republik formen können.

Mit drei regelrechten Staatsstreichen seit 1960 und weiteren Eingriffen in die demokratischen Prozesse unter Androhung eines Putsches hat die türkische Armee dem Land nicht immer gute Dienste erwiesen. Doch galt sie zugleich auch als Garantie gegen die Abwendung der Türkei von westlichen Normen, von Demokratie und Rechtsstaat. Diese Garantie besteht nun nicht mehr.

Großes Selbstbewusstsein

Abzuwarten bleibt, ob Erdogan mit seiner Allmacht vernünftig umgehen wird. Gerät die Türkei aber aus den Fugen und wird die Demokratie in dem Land geschwächt, dann trägt Europa daran eine Mitschuld. Zu tief wurde die Türkei bei ihren Bemühungen um eine Heranführung an die Europäische Union enttäuscht.

Die Begründung, aufgrund der islamischen Religion und unterschiedlicher kultureller Wurzeln sei ein Beitritt zur EU noch nicht möglich, führte in der Türkei zu einer Abwendung von Europa. Das ehemalige Ziel, EU-Mitglied zu werden ist längst marginalisiert. Dabei waren die Türken auch schon Muslime, als ihr Land der NATO und zuvor dem Europarat beitrat.

Das Selbstbewusstsein der Türkei ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und der enormen geostrategischen Bedeutung so stark wie nie zuvor. Ob Erdogan diese Stärke verkraftet und die Bodenhaftung nicht verliert, bleibt abzuwarten. Garantiert ist das nicht.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Andrea Lueg