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PolitikEuropa

Putin und Orban: "Russland kann Ungarn erpressen"

15. November 2022

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat an der Nähe von Ungarns Premier zum Regime Putins nichts geändert. Was treibt Orban dazu? Fragen an den ungarischen Politologen Andras Racz.

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Ungarn Russland Orban Putin
Wladimir Putin und Viktor Orban im Oktober 2019 in BudapestBild: Kremlin Press Office /AA/picture alliance

Kein Regierungschef eines EU-Landes hat im vergangenen Jahrzehnt ein so enges Verhältnis zu Russland und zu seinem Präsidenten Wladimir Putin aufgebaut wie Ungarns Premier Viktor Orban. Seit seinem Amtsantritt 2010 traf Orban Putin fast jedes Jahr persönlich. Zum bisher letzten Mal besuchte er ihn in Moskau Anfang Februar 2022, drei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. "Friedensmission" nannte Orban das. Was er damals konkret verhandelte, ist bis heute unklar.

Nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte, herrschte in Budapest zunächst Sprachlosigkeit. Orban und andere ungarische Regierungsvertreter zögerten, den Krieg in eindeutigen Worten zu verurteilen und Moskaus Überfall eine Aggression zu nennen. Das holte Ungarns Premier zwar später nach, allerdings in einem Tonfall, der eine unliebsame Pflichtübung erkennen ließ. Dagegen wiederholt Orban unermüdlich, dass sein Land sich nicht in den Krieg einmischen wolle und betont auch, dass er EU-Sanktionen gegen Russland für einen Fehler hält.

Russland | Treffen Putin und Orban in Moskau
Orban (r.) Anfang Februar bei Putin in MoskauBild: Mikhail Klimentyev/Russian President Press Office/dpa/picture alliance

Ungarn geht es bei dieser Politik vor allem darum, russische Energielieferungen nicht zu gefährden. Das Land ist sehr stark von russischem Gas und Erdöl abhängig und auch bei der Atomenergie auf Russland angewiesen. Sein Atomkraftwerk Paks, das mit seinen vier Reaktoren 50 Prozent des ungarischen Strombedarfs deckt, beruht auf sowjetischer bzw. russischer Technologie und russischem Kernbrennstoff. Eine Erweiterung um zwei Reaktoren, die ebenfalls federführend von Russland gebaut werden sollen, ist in Planung.

Sympathien für Putins System

Jenseits dieser ökonomischen Umstände lässt Viktor Orban aber immer wieder auch politische Sympathien für Putins System erkennen - in einem Maße, wie es kein anderer EU-Staat jemals getan hat. Zugleich duldet Ungarn auf seinem Territorium Aktivitäten des russischen Staates und russischer Staatsbürger, die anderswo in der EU kaum möglich wären. 2016 kam heraus, dass Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU jahrelang ungarische Rechtsextreme an Waffen trainiert hatten. Die als "Spionage-Bank" berüchtigte Kreml-nahe International Investment Bank (IIB) musste ihren Budapester Hauptsitz auch nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs nicht räumen.

András Rácz
Der ungarische Politologe Andras RaczBild: Zsófia Pölöske/DGAP

Vergangene Woche deckten Investigativ-Journalisten auf, dass der Sohn des russischen Auslandsgeheimdienstchefs SWR, Sergej Naryschkin, in Budapest in einer Luxuswohnung wohnt, die einer Firma aus dem Umfeld von Orbans Kabinettschef Antal Rogan zugerechnet wird. Schon seit längerem war bekannt gewesen, dass Naryschkins Sohn Andrej in Ungarn ein unbefristetes Aufenthalts- und Niederlassungsrecht hat. Aus diesem Anlass sprach die DW mit dem Politologen Andras Racz, der als einer der führenden ungarischen Experten für Russland und die russisch-ungarischen Beziehungen gilt. Racz ist derzeit Senior Fellow im Programm Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

DW: Herr Racz, wie bewerten Sie die neuesten Enthüllungen über die Budapester Wohnverhältnisse des Sohnes des russischen Auslandsgeheimdienstchefs?

Andras Racz: Ich finde es besorgniserregend, dass es eine direkte Verbindung gibt zwischen einem ungarischen Regierungsmitglied und dem Sohn des russischen Auslandsgeheimdienstchefs. Ebenso besorgniserregend ist, dass dem Sohn von Naryschkin die Aufenthaltsgenehmigung eigentlich entzogen werden sollte, da er bei einer Überprüfung von ungarischen Behörden als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde. Er hat dagegen vor Gericht geklagt und genießt bislang weiterhin Aufenthaltsrecht in Ungarn. Das Verfahren könnte sich noch Jahre hinziehen. Und das kann zweierlei bedeuten: Entweder ist der ungarische Staat nicht in der Lage, Personen, die ein nationales Sicherheitsrisiko darstellen, auszuweisen. Oder aber für den Sohn von Naryschkin wurde eine Ausnahme macht.

Russlands Auslandsgeheimdienst SWR feiert 100 Jahre
Sergej Naryschkin (r.), Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, am 20.12.2020 in MoskauBild: Alexei Nikolsky/dpa/Sputnik/Kremlin/AP/picture alliance

Worum geht es bei diesem Fall überhaupt? Braucht Ungarns Regierung eine direkte Verbindung zum russischen Auslandsgeheimdienst?

Das vermag ich nicht zu beurteilen. Was mir aber festzustehen scheint, ist, dass Ungarn alles, was mit russischen Geheimdiensten zusammenhängt, sehr locker handhabt, als einziges Mitgliedsland der EU. Ungarn ist das einzige EU-Land, das seit dem Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres keine russischen Diplomaten ausgewiesen hat. Im Gegenteil, ihre Zahl ist seitdem sogar noch gestiegen. Im Durchschnitt waren 45 bis 48 russische Diplomaten in Budapest, derzeit sind es 56, das sind die Angaben des ungarischen Außenministeriums.

Was bezweckt Ungarns Regierung mit dieser Politik?

Über vieles kann man nur rätseln. Was man aber sicher sagen kann: Bei der Energiesicherheit hängt Ungarn sehr stark von Russland ab. In den vergangenen acht Jahren, also seit Russland die Ukraine zum ersten Mal angegriffen hat, hat Ungarn seine Energiebezugsquellen nicht diversifiziert, und das schlägt jetzt zurück. Ungarns wichtigstes Interesse ist, dass Gazprom seine Lieferungen nach Ungarn nicht stoppt. Wenn das geschehen würde, stünde das Land vor einer wirtschaftlichen Katastrophe. Deshalb glaube ich, dass Ungarn derzeit alles vermeiden möchte, wovon es denkt, dass es Russland irritieren würde.

Ungarn Szazhalombatta | Druschba-Pipeline
Die Druschba-Erdöl-Pipeline zwischen Russland und Ungarn in der ungarischen Ölraffinerie SzazhalombattaBild: Bernadett Szabo/REUTERS

Sehen Sie Bestrebungen der Orban-Regierung, von der russischen Energieabhängigkeit loszukommen? Wie bewerten Sie die ungarisch-russischen Beziehungen insgesamt?

Es gibt einige sehr vorsichtige Bestrebungen der Diversifikation, auch im Bereich Erdgas. Insgesamt scheint mir aber, dass die ungarische Abhängigkeit von Russland immer stärker und Ungarns Spielraum zu manövrieren immer kleiner wird. Bislang hat Ungarn allen EU-Sanktionen gegen Russland zugestimmt, es gab nur eine Ausnahme, den Fall des Patriarchen Kyrill. Ich befürchte, dass der russische Druck auf Ungarn so stark zunehmen wird, dass es gezwungen sein könnte, gegen bestimmte EU-Sanktionen zu stimmen oder sein Veto gegen eine Verlängerung einzulegen.

Russland Patriarch Kyrill und Wladimir Putin
Russlands Patriarch Kyrill und Wladimir PutinBild: Mikhael Klimentyev/AFP/Getty Images

Für Gas- und Öllieferungen hat Ungarn ja Ausnahmen von den EU-Sanktionen ausgehandelt.

Ja, dieses ungarische Interesse ist völlig klar und rational nachvollziehbar. Aber es gibt auch irrationale, unerklärliche Schritte Ungarns.

Welche?

Die Drohung, ein Veto gegen EU-Sanktionen gegen den Patriarchen Kyrill einzulegen, war mit einem rationalen Interesse Ungarns nicht begründbar. Ungarn zögert derzeit auch seine Ratifizierung des NATO-Beitritts von Schweden und Finnland hinaus, auch da gibt es kein rational begründbares Interesse, denn Ungarn ist selbst NATO-Mitglied, und alles, was die NATO stärkt, ist auch für Ungarn gut. Dennoch ist Ungarns Regierung derzeit nicht bereit, die Ratifizierung auf die Tagesordnung des Parlaments zu setzen. Das ist nur für Russland gut, für niemanden sonst.

Russland Ungarn Putin Orban
In Ungarn kursieren seit langem Gerüchte, denen zufolge der Kreml Orban erpresstBild: ALEXANDER ZEMLIANICHENKO/AFP/Getty Images

Womit hängt das zusammen? Vielleicht mit den seit langem kursierenden Gerüchten, denen zufolge Russland Orban erpresst, weil es mutmaßlich etwas gegen ihn in der Hand hat, zum Beispiel Geldzahlungen an seine Partei Fidesz?

Das ist nicht beweisbar, deshalb kann man dazu nichts sagen. Was man sagen kann, ist, dass Russland Ungarn wegen des Erdgases erpressen kann. Und deshalb wird Ungarn seine Haltung gegenüber Russland kurzfristig nicht ändern.

Hat Ungarn ein Interesse daran, dass die Ukraine als Staat zerfällt, damit es das einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörende Transkarpatien zurückbekommt?

Das ist völlig irreal und unmöglich. Militärisch, diplomatisch, politisch und wirtschaftlich wäre es eine totale Katastrophe für Ungarn. Als EU- und NATO-Mitglied wäre das Land damit völlig isoliert, ganz davon zu schweigen, dass die Ukraine militärisch viel stärker ist als Ungarn und sich wehren würde. Wenn Orban in seinen Reden hin und wieder sehr vage derartige Anspielungen auf ein solches Szenario macht, dann geht es in erster Linie darum, die einheimischen Rechtsextremen als Wähler anzusprechen, nicht um Außenpolitik.

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter