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Glaube

Pura Vida

29. Juli 2022

In Lateinamerika gehen die Uhren anders. Jan Schäfer berichtet von einer Reise bei der unterschiedliche Vorstellungen von Zeit und Pünktlichkeit, von Gelassenheit und Stress aufeinandertreffen.

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Paraguay | Menschen mit Masken
Bild: Jorge Saenz/AP Photo/picture alliance

Start

Pünktlich um neun Uhr morgens soll es losgehen. Das Busticket habe ich schon vor Tagen gebucht. Oneway von Puerto Viejo an der Karibikküste Costa Ricas nach San José, in die Hauptstadt. Ich habe viel Zeit. Mein Rückflug nach Deutschland geht am nächsten Tag.

An der Haltstelle finden sich lange vor der Abfahrt die Reisenden ein. Einige Costa Ricaner*innen, die meisten sind junge Europäer*innen oder US-Amerikaner*innen. Entweder, um wie ich in ihre Heimatländer zurückzufliegen, oder um weiterzureisen. Die Rucksäcke riesig, fast alle sind viele Wochen unterwegs.

Auf die Minute

Noch vor der geplanten Abfahrtszeit kommt der Bus. Überpünktlich. Rucksäcke und Taschen werden unten im Gepäckfach verstaut. Drinnen sind alle Plätze besetzt. Auf die Minute um neun Uhr dreißig geht es los. Wow!

Neben mir sitzt ein Costa Ricaner. Wir wechseln ein paar Worte, fragen nach dem Woher und Wohin. Ansonsten genießen wir den Blick aufs Meer. Die Stimmung im Bus ist entspannt. Trotz der drückenden Hitze. Manche Reisende erzählen und tauschen sich aus. Andere hören Musik. Einige schlafen. 

Der Bus kommt gut voran. Die ersten eineinhalb Stunden fliegen nur so dahin. Ein kurzer Zwischenstop in Limón, dann biegt der Bus auf die Nationalstraße ein. Es ist die einzige Verbindung von der Karibik in die Hauptstadt. Busse, PKWs und vor allem Trucks teilen sich den Weg.

Stop und Go

In Gedanken plane ich den Nachmittag. Vom Busbahnhof ins Hotel, einchecken, kurz frischmachen, dann ein Stadtbummel und noch ein kurzer Abstecher ins Nationalmuseum.

Urplötzlich bremst der Bus scharf ab. Alles steht. Mein Sitznachbar schaut aufs Handy. Er öffnet Google-Maps und sagt: „Das sieht nicht gut aus. Bestimmt eine Vollsperrung nach einem Unfall. Das kann Stunden dauern.“ Noch bin ich entspannt. Noch sind alle entspannt. Zumal es nach einigen Minuten weitergeht. Wenn auch langsam und immer wieder mal nur im Schritttempo.  

Nichts geht mehr

Kurz danach wieder eine Vollbremsung. Der Bus steht erneut. Diesmal richtig. Fünf, zehn, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde. Aus der Gegenrichtung kommt nicht ein Fahrzeug. Die ersten werden unruhig und fragen den Fahrer, wie weit es noch sei. Der zuckt nur mit den Schultern und sagt auf Spanisch atasco - Stau. Stau – das sehen alle! Einige nutzen die Gelegenheit, um draußen Luft zu schnappen. Costa Ricaner*innen schlagen dem Busfahrer alternative Routen vor. Doch die gibt es nicht. Mein Sitznachbar schaut aufs Handy und sagt: „Oh weh, das dauert vielleicht bis morgen!“

Aus einer halben wird eine ganze Stunde. Keinen Zentimeter geht es vorwärts. Eine Amerikanerin will sorgenvoll wissen, ob ich auch auf den Abendflug nach Houston will. Zum Glück nicht! Andere fragen nach einer Toilette. Die gibt es auch nicht.

Die Stimmung im Keller

Von der gelösten Stimmung des Reisebeginns ist nichts mehr zu spüren. Die Luft wird immer stickiger. Die Kleider kleben am Körper. Viele versuchen, Fluggesellschaften und Hotels zu erreichen. Entspannt sind nur die Einheimischen. Auch ich fange an umzuplanen und werde unruhig. Wenn mein Nachbar recht hat? Schaffe ich es überhaupt zu meinem Flug morgen?

In dieser Situation ertönt laut die Hupe. Der Bus rollt an. Zuerst nur ein paar Meter. Die, die draußen waren, springen auf und steigen rasch ein. Über zwei Stunden haben wir gestanden. Langsam nimmt der Bus mehr und mehr Fahrt auf. Noch traut niemand der Situation so richtig. Ob es wirklich weitergeht? Es geht! Mein Nachbar zeigt mir sein Handy. Dort, wo die Strecke eben noch rot markiert war, ist sie jetzt gelb oder grün. Freie Fahrt! Der Fahrer gibt Vollgas.

Pura vida

Mit dreieinhalb Stunden Verspätung rollt der Bus ins Terminal in San José. Einige springen schnell ins Taxi. Auf geht’s zum Airport oder ins Hotel. Mein Körper schreit nach Bewegung. Also entscheide ich mich dafür, zu Fuß zum Hotel zu gehen. Mitten durch das lebendige Gewusel der Stadt. Ich genieße es, mein Tempo selbst zu bestimmen. Ich bin wieder Herr über meine Zeit. Die Worte des Predigers Salomo kommen mir in den Sinn: Alles hat seine Zeit. Recht hat er! Alles hat seine Zeit und alles braucht seine Zeit. Und ich brauche die Gelassenheit, um das anzunehmen.

Aus einer Bar dröhnen Latinobeats. Spontan kehre ich ein. Pura vida schallt mir der costa-ricanische Gruß entgegen – nichts als das pure Leben. Der Barkeeper prostet mir zu. Fort sind alle Sorgen und Ängste. Was sind schon dreieinhalb Stunden Verspätung, wenn am Ende diese Botschaft wartet: nichts als das Leben. Das ist mehr als eine Redensart, es ist eine Lebensart. Für mich eine Spielart von Gottvertrauen.