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Pressestimmen von Freitag, 30. Dezember 2005

Walter Lausch29. Dezember 2005

Offener Brief von Kanzlerin Merkel / Umstrittenes Interview mit Susanne Osthoff

https://p.dw.com/p/7ia2

In einem offenen Brief an alle Bürger hat Kanzlerin Angela Merkel ihre Politikziele erläutert. Dies ist ein Thema dieses Blickes auf die Kommentarseiten der deutschen Tageszeitungen. Ein weiteres Thema ist das umstrittene Fernsehinterview der im Irak freigelassenen Deutschen Susanne Osthoff:

Zum Merkel-Brief schreibt die Die LANDSHUTER ZEITUNG/STRAUBINGER TAGBLATT:

"Angela Merkel gibt sich nicht damit zufrieden, die traditionelle Ansprache zum neuen Jahr zu halten, sondern schreibt 'ihrem' Volk zusätzlich einen patriotischen Brief, in dem sie fordert: 'Lassen Sie uns unser Land gemeinsam nach vorne bringen.' Und: 'Überraschen wir uns damit, was möglich ist und was wir können.' Schön wäre, wenn ihre Regierung die Bürger mit konsequentem Reformen statt koalitions- politischen Kleinklein überraschen würde; oder mit einer Steuerreform und entschlossenem Bürokratieabbau, sodass tatsächlich der Weg für mehr Jobs freigemacht wird; oder mit einer Gesundheitsreform, die die Probleme nachhaltig und nicht nur bis zur nächsten Legislaturperiode löst."

Die Münchener ABENDZEITUNG stellt eine Frage:

"Ob das nun unbedingt sein musste? Für knapp drei Millionen Euro hat das Bundespresseamt einen nachweihnachtlichen Brief der Kanzlerin hinaus ins Land geschickt. Möglichst viele Bürger sollen via Zeitung oder Illustrierte noch einmal schwarz auf weiß nachlesen, was ihnen seit Wochen eingetrichtert wird. Hatte Bundespräsident Horst Köhler mit seinem 'Stern'-Interview, das sehr konkrete Reformvorschläge enthielt, zu überraschen verstanden, kann man sich bei Lektüre der Merkelschen Postille das Gähnen kaum verkneifen. Zu abgedroschen klingt der Stabreim 'Mit Mut und Menschlichkeit'. Jetzt gilt es nur noch die Silvesteransprache der Kanzlerin abzuwarten. Spätestens dann jedoch sind der Worte wirklich genug gewechselt. Im neuen Jahr sollte die Regierung erst einmal Taten sprechen lassen."

Auch die Lüneburger LANDESZEITUNG ist von dem offenen Brief nicht begeistert:

"Merkels Brief an die Deutschen trifft nur den Kopf, verfehlt aber das Herz. Bundespräsident Köhler macht Merkel vor, wie man Emotionen hervorruft. Während das Staatsoberhaupt die soziale Schieflage im Land anprangerte, rühmte sich die Kanzlerin dafür, ein neues Klima für Unternehmen zu schaffen. Die von Köhler vorgeschlagene Gewinnbe- teiligung von Arbeitnehmern wäre geeignet, deren Identifikation mit dem Unternehmen zu stärken. Merkel beschränkte sich dagegen darauf, von den Deutschen die Bereitschaft für Veränderungen anzumahnen. Ignorierend, dass es gerade diese Veränderungen sind, die von den meisten Menschen als Bedrohung wahrgenommen werden. Ängste lassen sich nicht mit Appellen vertreiben. Ängste können aber durch stärkere Gefühle verdrängt werden - etwa durch Begeisterung"

Die FULDAER ZEITUNG greift den finanziellen Aspekt der Briefveröffentlichung auf und fragt:

"Hat sie über die TV-Kanäle und Zeitungsinterviews nicht genug Gelegenheiten sich an das Volk zu wenden? Ist daneben noch eine drei Millionen Euro teure Werbekampagne notwendig? Einige Politiker glauben immer noch, das Geld der Allgemeinheit für nichts sagende Anzeigenkampagnen zum Fenster hinauswerfen zu müssen. Von dieser Art Überraschung wird Merkel in Zukunft hoffentlich Abstand nehmen:"

Und nun Pressestimmen zum Interview von Susanne Osthoff im Zweiten Deutschen Fernsehen. Die Meinung des Bielefelder WESTFALEN-BLATT:

"Das ZDF hat 24 Stunden gezögert, bis es sich zur Ausstrahlung eines unbarmherzigen Interviews mit Susanne Osthoff entschloss. Eine schwere Fehlentscheidung. Scharadenhafte Sätze, übernervöse Augen, kein klarer Gedanke: Die im Irak verschleppte Frau ist krank, stark traumatisiert und bedarf dringend fachkundiger Hilfe. Das konnte jeder Zuschauer sehen - und nur das. Nicht eine einzige gesicherte Information hat der gescheiterte Gesprächsversuch zutage gefördert. Die Verantwortung für die menschenunwürdige Vorführung einer gebrochenen Frau liegt einzig beim ZDF. Keine Spur vom dem sonst noch spürbaren Qualitätsanspruch. Die Alternative wäre ein Standbild gewesen, wie es die ARD mit dem Entführervideo seit Beginn des Geiseldramas durchgehalten hat."

Auch die KÖLNISCHE RUNDSCHAU hätte von der Ausstrahlung des Interviews abgeraten:

"Obwohl die unmittelbare Entführung Osthoff beendet ist, trägt die Betroffene durch ihr rätselhaftes Verhalten dazu bei, dass der Fall politisch und kriminalistisch noch lange nicht abgeschlossen wurde. Inzwischen gibt es zwei rätselhafte Interviews mit dem arabischen Sender el Dschasira und dem ZDF mit einer Frau als Entführungsopfer, bei der alles schleierhaft ist... Es wäre ratsam, die Dame nun den Ermittlern zu überlassen und nicht weiter vorzuführen. Vielleicht hat man sich beim ZDF schon geärgert, den verunglückten Interview- zusammenschnitt überhaupt gesendet zu haben. Die Frau ist dem auch offensichtlich nicht gewachsen. Dann sollte man auch dementsprechend mit ihr umgehen, so lange nichts klar ist und es substanziell nichts zu melden gibt."

Die RHEIN-ZEITUNG aus Koblenz vermisste ebenfalls in dem Interview Inhalte:

"Wer das Interview mit ihr gesehen oder nachgelesen hat, erfährt wenig über die Entführung, aber viel darüber, wie eine Entführung einen Menschen verändern, schlimmstenfalls zerstören kann. Susanne Osthoff konnte nicht einen verständlichen Satz formulieren. Was sie von sich gab war wirr, zusammenhanglos, Ausdruck einer zutiefst aufgewühlten Psyche."

Die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf rät zur Gelassenheit:

"Absurd ist die Aufregung über Susanne Osthoff, weil sie angeblich zurück in den Irak wolle. In Wahrheit hatte sie dies nie angekündigt. Wenn uns die vergangenen Tage etwas lehren, dann dies: Zurückhaltung bei vorschnellen Urteilen. Auch Jürgen Chrobog hatte im Zusammenhang mit dem Fall Osthoff kritisch angemerkt, dass sich Menschen immer wieder in Gefahr begeben würden. Nun hat es ihn selbst erwischt. Zur Schadenfreude gibt es wahrlich keinen Anlass, im Gegenteil. Hoffen wir auf einen guten Ausgang für alle, die in Gefahr geraten - auch für die schwierigen Zeitgenossen."