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Presseschau: "Die Wahl Angela Merkels ist eine Zäsur"

23. November 2005

Angela Merkel ist das Thema in den Leitartikeln europäischer Zeitungen. Die meisten fragen sich, ob die Bundeskanzlerin den Herausforderungen gewachsen ist und die neue Regierung zusammenhalten kann.

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"Il Messaggero" (Rom): Der leise Stil Angela Merkels

In Zeiten, die vom Fernsehen beherrscht sind, ist der Stil alles. Die Wesensart von Angela Merkel, die seit gestern Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist, ist die eigentliche Neuheit einer Regierung, die - ihrer Komposition nach - mit der rot-grünen Vergangenheit bricht, aber die deren Politik mit einigen Verbesserungen fortsetzt. Manche definierten den Ex-Kanzler Gerhard Schröder als letzten Kampf-Macho - wegen seiner verführerischen Art und seiner Aggressivität in den Medien. Das Adjektiv, das am besten zu Merkel passt, ist vielleicht "leise".

"Guardian" (London): Auch unter Merkel bestimmt SPD die Außenpolitik

Die Außenpolitik ist in der Hand der SPD, wobei Merkels erste Auslandsreisen keine radikalen Änderungen vermuten lassen. Sie folgt der Tradition, indem sie zuerst nach Paris geht - eine Erinnerung daran, dass mit Frankreich und Deutschland zu rechnen ist, wenn beide Länder gemeinsam agieren, obwohl sie nicht länger der Motor der europäischen Integration sind. Nach einem ähnlichen Pflichtbesuch in Brüssel kommt London, jedoch nur, weil Tony Blair gerade die EU führt und sie seine Aufmerksamkeit haben will für die Botschaft, dass die Lösung der EU-Haushaltskrise dringend erforderlich ist. Die wichtigste Auslandsreise der Kanzlerin wird sie jedoch nach Washington führen, wo sie für Versöhnung eintreten wird nach Gerhard Schröders Attacken auf George Bushs Irak-Abenteuer.

"Daily Telegraph" (London): Merkel kann trotz kühlem Kopf scheitern

Merkels eigene nur mittelmäßige Wahlkampagne und Schröders bemerkenswerte Fähigkeit zur Wiederauferstehung hatten nahezu alle Vorsprünge der Christdemokraten zunichte gemacht und sie zu einem zweimonatigen Feilschen mit ihren Rivalen gezwungen. (...) Doch all diesen Unbillen und auch dem schamlosen Versuch Schröders, den Sieg für sich zu reklamieren, zum Trotz hat Merkel kühlen Kopf bewahrt. Sie mag nicht so medienwirksam sein wie ihr Vorgänger, aber sie hat zweifellos eine klare Vorstellung davon, was gebraucht wird, um Deutschlands Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Allerdings können die Zwänge einer großen Koalition sie daran hindern, viel zu erreichen. Ja, es ist sogar möglich, dass Streitigkeiten sie davon abhalten, volle vier Jahre im Amt zu bleiben.

"Neue Zürcher Zeitung": Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte

Die Wahl Angela Merkels vom Dienstag (ist) eher eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte als der Ausdruck politischer Kontinuität. Mag sein, dass viele in Angela Merkel bloß die Vertreterin einer jüngeren Generation von Parteifunktionären sehen. Aber die Wahl dieser Kanzlerin versinnbildlicht doch auch den erfolgreichen Vollzug der deutschen Wiedervereinigung. Endlich ist am Dienstag auf der politischen Ebene zusammengewachsen, was längst hätte zusammenwachsen sollen. Daran darf erinnert werden, denn das ist neu.

"Nesawissimaja Gaseta" (Moskau): Hält Merkel ihre Regierung zusammen?

Auch wenn es manchmal heißt, die große Koalition sei zum Erfolg verurteilt, ist die Haltung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eher abwartend. Beim Aushandeln des Koalitionsvertrages haben beide Parteien große Abstriche an ihren Wahlprogrammen machen müssen. Das ruft bei den einfachen Mitgliedern von CDU wie SPD große Zweifel hervor. Der Vertrag sei nur ein Papier, der gemeinsame Ausgangspunkt, sagte Merkel dieser Tage. Die Probleme, vor denen ihre Regierung steht, sind sehr groß: die Massenarbeitslosigkeit, die schwächelnde Wirtschaft, das riesige Haushaltsdefizit. Deshalb wird Streit im Kabinett unvermeidlich sein. Kann die Bundeskanzlerin verhindern, dass er sich zu ernsthaften Konflikten auswächst?

"Le Figaro" (Paris): Frankreich kann durch Angela Merkel nur gewinnen

So wie die große Mehrheit ihrer Landsleute ist Angela Merkel von dem entscheidenden Gewicht der deutsch-französischen Beziehungen für die europäische Integration überzeugt. Und auch Frankreich kann nur gewinnen, wenn es sich dabei herausstellt, dass Washington Berlin wieder zuhört und die öffentliche Meinung in Deutschland weit davon entfernt ist, so "atlantisch" zu denken wie in den Zeiten des Kalten Krieges. Angela Merkel kommt zu einem Zeitpunkt an die Macht, zu dem ihre wesentlichen Partner - Bush, Chirac, Blair, Berlusconi, Putin - sich dem Ende ihrer Amtzeit nähern. In den großen Fragen dürften die wichtigen Entscheidungen auf sich warten lassen. Das gibt ihr Zeit.

"El Mundo" (Madrid): Schröder beweist Größe und Weitblick

Die Bildung einer großen Koalition in Deutschland ruft in Spanien Bewunderung und Neid hervor. Die beiden großen Parteien stellten ihre Einzelinteressen hintan und schlossen sich zusammen, um zum Wohl der Allgemeinheit eine Regierung zu bilden. Die politische Kaste in Deutschland erteilte der Welt eine Lektion. Der große Verlierer Gerhard Schröder war der erste, der sich erhob und Angela Merkel zur Wahl gratulierte. Damit bewies er Größe und Weitblick. Obwohl er bei der Bundestagswahl nicht so schlecht abgeschnitten hatte, zog er es vor, sein Abgeordnetenmandat abzugeben und den Weg zu einer Wachablösung freizumachen. Damit gab Schröder ein Beispiel, wie man es nur selten sieht.

"Der Standard" (Wien): Niedrige Erwartungen an Merkel

Der mühsame Wahlkampf, der knappe Wahlsieg, die schwierigen Koalitionsverhandlungen, jetzt das durchschnittliche Wahlergebnis - über dem Beginn von Merkels Kanzlerschaft schwebt vor allem ein Begriff: Mittelmaß. (...) Aber vielleicht sind diese niedrigen Erwartungen nicht die schlechteste Ausgangsposition für Merkel. Als Rot-Grün 1998 an die Macht kam, waren daran derart viele Hoffnungen geknüpft, dass Gerhard Schröder gar nicht umhinkam, viele zu enttäuschen. Von Merkel wird hauptsächlich erwartet, dass sie sich im Amt hält und bei der Budgetsanierung einen halbwegs guten Job macht. Wer weiß, möglicherweise heißt es in ein paar Monaten in Berlin erneut: Seht an, wir haben sie wieder unterschätzt. (stl)