Streit um Pressekodex
9. Dezember 2016"Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden", heißt es in Ziffer zwölf des Pressekodex des Deutschen Presserats. Daraus folgt als Richtlinie für Journalisten: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht." Denn es bestehe die Gefahr, "dass die Erwähnung Vorurteile gegen Minderheiten schüren könnte".
Bereits nach den sexualisierten Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht taten sich Medien, Polizei und Politik schwer, die unangenehme Wahrheit zu sagen: Fast alle mutmaßlichen Täter waren nordafrikanischer oder arabischer Abstammung und auch Asylbewerber aus Syrien waren dabei. Das war dazu angetan, in der Öffentlichkeit die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung massiv infrage zu stellen. Das Zögern trug Medien und politisch Verantwortlichen den Vorwurf der Vertuschung ein. Trotzdem entschied der Presserat einige Wochen später, den Artikel zwölf in der bisherigen Form beizubehalten.
Bedeutung der Herkunft ist Auslegungsfrage
Seitdem kocht mit jeder Straftat, an der Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt sind, die Diskussion um die Nennung der Herkunft hoch - zuletzt nach dem Mord an der 19jährigen Maria L. in Freiburg. Der mutmaßliche Täter ist ein minderjähriger Afghane.
Auch Politiker schalten sich ein. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, dessen Partei die Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel von Anfang an kritisch sah, fordert in der Zeitung "Die Welt": "Die Herkunft der Täter und Opfer muss grundsätzlich genannt werden, um damit auch wilden Spekulationen Einhalt zu gebieten."
Lutz Tillmanns ist Geschäftsführer des Deutschen Presserats. Im Gespräch mit der Deutschen Welle hält er Scheuers Vorschlag für "unrealistisch" und für einen "viel zu scharfen Eingriff in die redaktionelle Freiheit". Tillmanns betont: "Die Nationalität gehört nicht automatisch zum kriminellen Verdacht." Außerdem müsse man dann auch bei jedem von Deutschen begangenen Delikt die Nationalität nennen. Das sei schon aus praktischen Gründen undurchführbar, man könne schließlich nicht über jede Straftat berichten.
Der Verein Neue deutsche Medienmacher, der für mehr Vielfalt in den Medien eintritt und in dem die Mehrheit der Journalisten einen Migrationshintergrund hat, will anhand von Beispielen zeigen, welch absurde Züge es haben könnte, würde man bei jedem Straftäter die möglicherweise relevanten Details seiner Herkunft nennen: Die Medienmacher sprechen zum Beispiel von der "aus Köln stammenden, evangelisch getauften, mutmaßlich atheistischen und 2011 wegen Verleumdung verurteilten deutschen Steuerhinterzieherin Alice Schwarzer" oder dem "2014 verurteilten bayrischen, katholisch sozialisierten Steuerhinterzieher Uli Hoeneß".
Die Frage, ob beim Freiburger Mordfall die Herkunft des mutmaßlichen Täters eine Rolle spiele, "kann man nicht mit ja oder nein beantworten", meint Tillmanns. Jeden einzelnen Fall sieht er als eine Auslegungsfrage, die Journalisten beantworten müssten.
Chefredakteure wollen Reform
CSU-Mann Scheuer weist auch darauf hin, dass klassische Medien wegen des Internets und der sozialen Medien heutzutage Informationen ohnehin nicht mehr zurückhalten könnten. Sind die Informationen aber einmal in der Öffentlichkeit, kommt niemand mehr daran vorbei. Dann ist neben der Debatte über den Fall selbst eine zweite Debatte entstanden, nämlich die über den Umgang der Medien mit den Details.
Am härtesten traf die Kritik diesmal die Hauptnachrichtensendung der "Tagesschau", die über den Mordfall wegen vermeintlich nur "regionaler Bedeutung" zunächst gar nicht berichtet hatte und dann hilflos zusehen musste, wie sie selbst zum großen Thema wurde. Auch Lutz Tillmanns vom Deutschen Presserat sagt: "Die Benennung der Herkunft ist jetzt, wo der Fall in aller Munde und deutschland- und europaweit Thema ist, relevant und für das Verständnis wichtig."
Der Druck, den Kodex zu ändern, kommt nicht nur von politischer, sondern auch von journalistischer Seite. Tanit Koch, Chefredakteurin des Boulevardblattes "Bild", hat den Passus des Kodex als "ungerechtfertigte Selbstzensur" bezeichnet, die der Glaubwürdigkeit der Medien insgesamt schade. Christian Lindner, Chefredakteur der in Koblenz erscheinenden "Rhein-Zeitung", hält den Kodex mindestens für veraltet: "Ich will eine Neuformulierung, die Medien aus der Ecke des Verdachts rausholt, Informationen aus politischen Gründen verschweigen zu wollen." Die "Sächsische Zeitung" in Dresden hat den Schritt im Grunde schon vollzogen. Sie nennt inzwischen grundsätzlich die Herkunft aller Täter, auch die von Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Verantwortung oder Bevormundung des Bürgers?
Die Unruhe unter den Chefredakteuren hat auch, vielleicht sogar in erster Linie, einen wirtschaftlichen Grund: Die Zeitungsbranche steht ohnehin unter hohem wirtschaftlichem Konkurrenzdruck gegenüber den elektronischen Medien. Und Leser, die sich von ihrer Zeitung manipuliert fühlen, kann man leicht als Kunden verlieren. Doch Lutz Tillmanns vom Presserat will bei aller Konkurrenz durch die sozialen Medien den journalistischen Anspruch nicht aufgeben: "Wir wollen Qualitätsinhalte anbieten. Journalistische Inhalte sind eben qualifizierter erstellt als die normale Kommunikation über soziale Netzwerke." Und wenn man die Herkunft Strafverdächtiger nenne, gelte es auch, "die Wirkung beim Publikum zu berücksichtigen."
Die Frage ist, wie es ankommt, wenn man "die Wirkung beim Publikum berücksichtigt". In der Zeitung "Die Welt" befürchtet die Autorin Kathrin Spoerr, dass sich Leser so bevormundet fühlen: "Dem Leser traut er (der Pressekodex) wenig zu. Kein Urteil, nur Vorurteil. Dem Journalisten traut er viel zu: zu wissen, was dem Volk zugetraut werden darf." Spoerr spricht sich für die Nennung der Herkunft aus.
Dass ein Pressekodex nicht in Stein gemeißelt ist, gibt auch Lutz Tillmanns zu: "Ein Kodex ist immer der Diskussion unterzogen." Gerade die Anwendung des Artikels zwölf werde sicher beim nächsten Treffen wieder für heftige Diskussionen sorgen.