1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zweiklassengesellschaft

Ronny Blaschke6. September 2012

Athleten wie die amputierte Läuferin Thin Seng Hong aus Kambodscha können sich teure Prothesen nicht leisten. Von einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben achtzig Prozent in Entwicklungsländern.

https://p.dw.com/p/164cw
Fotograf: Ronny Blascke Ort: London Titel: Sportlerin Thin Seng Hong
Sportlerin Thin Seng HongBild: Ronny Blascke

Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Haltung gebeugt, die Stimme ganz leise. Thin Seng Hong wirkt wie ein Partygast, der sich die Feier etwas anders vorgestellt hat. "Ich bin beeindruckt, das ist eine tolle Erfahrung", sagt die zierliche Frau, ihr Lächeln wirkt ein wenig gezwungen, ihre Worte wollen nicht zur Körpersprache passen. Thin Seng Hong steht in der Interviewzone des Olympiastadions, von draußen dringt das Raunen der Zuschauer. Rechts von ihr fällt eine niederländische Prothesenläuferin kreischend ihrem Trainer in die Arme, links wird ein japanischer Rennrollstuhlfahrer von einem Dutzend Journalisten befragt.

Thin Seng Hong wirkt verschreckt. Sie hat ihren rechten Unterschenkel verloren, sie stammt aus Kambodscha, wo der Anteil an amputierten Menschen weltweit am höchsten ist, wegen der vielen Landminen. Das Paralympics-Team Kambodschas könnte riesig sein, doch Thin Seng Hong ist die einzige Starterin.

Drei Jahresgehälter für das Glücksbein

Die Stars der vierzehnten Sommer-Paralympics in London heißen Oscar Pistorius oder Alessandro Zanardi. Sie sind talentiert, trainieren hart, doch sie haben auch gutes Material: Das Prothesenpaar, auf dem der Südafrikaner Pistorius seinen Gegnern davon läuft, kostet 20.000 Euro. Das federleichte Handbike, mit dem der frühere Rennfahrer Zanardi Gold im Zeitfahren gewann, wurde für 6.000 Euro gefertigt. Beide Athleten stehen an der Spitze der paralympischen Elite: Vierzig Prozent der 4200 Teilnehmer stammen aus neun wohlhabenden Ländern, insgesamt sind 165 Nationen vertreten. Die Paralympics verzerren die Wirklichkeit, denn von einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben laut der Weltgesundheitsorganisation WHO achtzig Prozent in Entwicklungsländern.

Oscar Pistorius läuft mit hochentwickelten Prothesen. (Foto: GettyImages)
Oscar Pistorius läuft mit hochentwickelten ProthesenBild: Glyn Kirk/AFP/GettyImages

So wie die Läuferin Thin Seng Hong. 2005 hatte sie mit dem Leistungssport begonnen, doch schon bald musste sie wieder aufhören, weil sie keine Unterstützung fand. Behinderte Menschen werden in Kambodscha ausgegrenzt und diskriminiert, wie in dutzenden anderen Ländern. Freunde von Thin Seng Hong sammelten Spenden und kauften ihr eine Prothese für umgerechnet 2000 Euro. Peanuts für Oscar Pistorius oder Alessandro Zanardi – drei Jahresgehälter für Thin Seng Hong, die in Kambodscha von einem eigenen Souvenirstand träumt. "Mit einer besseren Prothese wäre ich schneller gelaufen", glaubt die 29-Jährige. Über 100 und 200 Meter ist sie im Vorlauf ausgeschieden. Ihre Prothese bezeichnet sie trotzdem als Glücksbein.

61 Wildcards für tausende Bewerber

Die Paralympics sind eine Zweiklassengesellschaft, aber die Unterschiede werden kleiner. 1988 waren nur 61 Länder bei den Spielen in Seoul vertreten, nun in London sind es fast dreimal so viele, 16 Nationen feierten ihre Premiere. Und es hätten mehr sein können: Die Sportler aus Malawi und Botswana mussten ihre Reise kurz vor der Eröffnung absagen, sie hatten laut der britischen Zeitung Guardian nicht genug Sponsoren gefunden. "Es ist eines unserer wichtigsten Ziele, die paralympische Bewegung auszuweiten", sagt Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). "Damit würde das Niveau unserer Wettbewerbe steigen und auch die Aufmerksamkeit für behinderte Menschen in ärmeren Ländern."

IPC-Präsident Sir Philip Craven. (Foto: AP)
IPC-Präsident Sir Philip CravenBild: AP

Wie das Internationale Olympische Komitee (IOC) verteilt auch das IPC Wildcards an Athleten aus Schwellenländern, die sich sportlich nicht für die Paralympics qualifizieren konnten. Eine der nur 61 Sondergenehmigungen für fünfzig Länder ging an Thin Seng Hong. Ihre Geschichte soll in Kambodscha Versehrte des Bürgerkrieges für Sport motivieren, doch das Fernsehen hat ihre Läufe nicht übertragen, und kambodschanische Journalisten sind nicht nach London gereist. Das IPC hat tausende Anfragen für Wildcards erhalten, aber es ist finanziell bei weitem nicht so gut aufgestellt wie das IOC. In früheren Interviews hat Thin Seng Hong einen stärkeren Fokus auf Entwicklungsländer gefordert, in London will sie die Argumente nicht wiederholen. Verbittet sich das IPC Kritik? Oder hat sich ihre Regierung eingeschaltet?

Achtzig Werkstatt-Techniker und 14 Tonnen Ausrüstung

Das Komitee ist von Partnern abhängig, zum Beispiel von "Motivation". Diese Wohltätigkeitsorganisation hat Material und Vertrieb für günstige Rollstühle im Tennis und Basketball entwickelt: sie kosten statt 5.000 nur 550 Euro. Derzeit sind 4.000 dieser Geräte in fünfzig Ländern unterwegs. "Viele Teams können sich bei den Paralympics keinen Techniker leisten, ihr Material ist veraltet und defekt", sagt Rüdiger Herzog von der Firma Otto Bock aus dem niedersächsischen Duderstadt. Der Weltmarktführer in Prothetik organisiert seit 1988 die Werkstätten bei den Paralympics. In London sind achtzig Techniker aktiv, mit 14 Tonnen Ausrüstung und 15000 Ersatzteilen. Es sind Zahlen, mit denen die meisten Paralympier wenig anfangen können. Von den 13 Sportlern aus Kenia ist zum Beispiel nur einer auf einen Rollstuhl angewiesen, die anderen sind blind oder sehgeschädigt.

Das IPC organisiert nun verstärkt Bildungsprojekte: Behörden, Lehrer und Trainer sollen den Wert des Behindertensports schätzen lernen. Fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung haben eine Behinderung, wegen der Kriege und Konflikte dürfte diese Zahl weiter steigen. Nur zwei bis drei Prozent der behinderten Kinder haben einen Schulzugang. Auch in Kambodscha gibt es für sie kaum barrierefreie Spielplätze oder Sportstätten. Thin Seng Hong hofft, dass sie in vier Jahren nicht allein zu den nächsten Paralymics nach Rio de Janeiro reisen muss. Sie würde gern wieder im selben Stadion laufen wie der millionenschwere Posterboy Oscar Pistorius. Auch wenn zwischen ihnen Welten liegen.