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PolitikUngarn

Orbans Sommerrede: Abschied von Europa

24. Juli 2023

In seiner traditionellen Rede im siebenbürgischen Kurort Bad Tuschnad prophezeit Ungarns Premier Viktor Orban den Untergang der USA und Europas. Ungarn hingegen sei unter seiner Führung wieder auferstanden.

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Ungarns Premier Viktor Orban, hier auf einem Bild während des NATO-Gipfels in Madrid am 30.06.2022
Ungarns Premier Viktor OrbanBild: Beata Zawrzel/ZUMA/picture alliance

Das südöstliche Siebenbürgen ist eine idyllische Gegend. Es gibt kaum Industrie und viel Natur. Die Dörfer scheinen aus der Zeit gefallen, das Leben in ihnen wirkt wie im Museum.

Hier, im Szeklerland, lebt der größte Teil der ungarischen Minderheit Rumäniens, rund 600.000 Menschen. Für Ungarn hat das Gebiet eine mythische Bedeutung, denn die Szekler Ungarn sprechen ein uriges Ungarisch und gelten als stolze, freiheitsliebende und äußerst traditionsbewusste Menschen.

Im Szekler Gebirgskurort Bad Tuschnad (Baile Tusnad) organisiert die Fidesz-Partei des ungarischen Premiers Viktor Orban seit mehr als 30 Jahren jeweils im Juli eine so genannte freie Sommeruniversität. Lange Zeit war sie ein Forum für den rumänisch-ungarischen Dialog - ein Dialog von Politikern zweier Nationen, die einander historisch ähnlich verfeindet waren wie einst Deutschland und Frankreich. Im vergangenen Jahrzehnt jedoch machte die Tuschnader Sommeruniversität vor allem Schlagzeilen, weil Viktor Orban sich hier regelmäßig verbal austobte.

Schwächlicher Westen, starkes Ungarn

Der ungarische Premier hält hier seine wichtigste programmatische Rede des Jahres - wohlgemerkt außerhalb Ungarns, aber in einem Gebiet, das bis 1918 zum ungarischen Teil der k.u.k. Monarchie gehörte. 2014 stellte Orban in Bad Tuschnad erstmals sein Konzept eines "illiberalen Staates" vor, im vergangenen Jahr sprach er davon, dass die Ungarn keine "gemischte Rasse" werden wollten.

Viktor Orban spricht im siebenbürgischen Bad Tuschnad, Rumänien, neben dem ungarischen Pfarrer Laszlo Tökes (re.), dessen Widerstand gegen die Ceausescu-Diktator im Dezember 1989 zum Aufstand gegen das Regime führte
Viktor Orban spricht im siebenbürgischen Bad Tuschnad, Rumänien, neben dem ungarischen Pfarrer Laszlo Tökes (re.), dessen Widerstand gegen die Ceausescu-Diktator im Dezember 1989 zum Aufstand gegen das Regime führteBild: Szilard Koszticsak/dpa/MTI/AP/picture alliance

Generell gibt sich Orban in Bad Tuschnad jedesmal gleichermaßen als Untergangsprophet wie als Retter. Er zeichnet das Bild eines schwächlichen, verkommenen Westens, dem er ein starkes christlich-nationales Ungarn unter seiner Führung entgegensetzt. Nebenbei schlägt der Budapester Premier gern polemisch-feindselige Töne gegen Rumänien an - und zwar in einer Weise, als sei Siebenbürgen noch immer Teil Ungarns und er, Orban, der Herr im Land.

Beginn einer schönen Freundschaft?

In diesem Jahr schien jedoch eine Überraschung anzustehen. Erstmals seit vielen Jahren war Orban kurz vor seiner Rede in Bad Tuschnad nach Bukarest gereist und hatte dort den derzeitigen rumänischen Premier Marcel Ciolacu getroffen. Dessen Sozialdemokratische Partei (PSD) steht Orbans rechts-nationalistischem Fidesz ideologisch teils sehr nah. Bei einem privaten Mittagsessen entwarfen Ciolacu und Orban das gewaltige Projekt einer Hochgeschwindigkeits-Bahntrasse zwischen Budapest und Bukarest, Ungarns Premier warb außerdem für rumänische Investitionen in seinem Land. Auf Facebook schrieb Orban zum Treffen anschließend: "This is the beginning of a beautiful friendship."

Doch wer nun erwartet hatte, dass Ungarns Premier in Bad Tuschnad gemäßigte Töne anschlagen würde, sei es gegenüber Rumänien oder gar gegenüber Europa, der wurde enttäuscht. Orbans Rede war eine sarkastische, streckenweise bösartige Polemik gegen den Westen, die USA und die EU. Die westlichen Werte seien "Migration, LGBTQ und Krieg". Die USA hätten ihren Führungsplatz in der Welt an China verloren, sie seien deshalb gefährlich und könnten die ganze Welt in einen Krieg stürzen. Die EU wolle das Projekt eines "Bevölkerungsaustausches" durch Migranten verwirklichen und strebe danach, das traditionelle christliche Fundament Europas durch "LGBTQ-Ideologie" zu untergraben.

Aufklärung gescheitert

Das große europäische Projekt der Aufklärung erklärte Orban kurzerhand für gescheitert. "Vor mehr als 200 Jahren dachten die linken internationalistischen und liberalen Intellektuellen und politischen Führer, dass durch die Ablehnung von Religion und Christentum eine ideale aufgeklärte Gemeinschaft entstehen würde", so Orban. "Das war pure Illusion. Durch die Ablehnung des Christentums sind wir in Wirklichkeit zu hedonistischen Heiden geworden."

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban vor EU-Fahnen während eines EU-Gipfels in Brüssel am 30.05.2022
Viktor Orban während eines EU-Gipfels in Brüssel am 30.05.2022Bild: Geert Vanden Wijngaert/AP/picture alliance

Ungarn sei das einzige Land in Europa, das daraus die richtigen Konsequenzen gezogen habe, so Orban - weil es die einzige Verfassung Europas habe, die nicht das "Ich", sondern das "Wir" in den Mittelpunkt stelle. Ungarns neue Verfassung sei 2011 nicht umsonst an Ostern verkündet worden - eine Anspielung auf das Fest der Auferstehung und des Sieges über den Tod.

"Siebenbürgen kein rumänisches Gebiet"

Und schließlich zerstörte Orban auch gleich die "schöne Freundschaft" mit Rumänien, die noch gar nicht richtig begonnen hatte. Seinen Amtskollegen Ciolacu verspottete er als den "20. rumänischen Premier" seit seinem eigenen Amtsantritt 2010. Und er machte sich über eine diplomatische Note aus dem rumänischen Außenministerium lustig, die er erhalten hatte und in der man ihn bat, über bestimmte Dinge, die "für Rumänien sensibel" seien, nicht zu sprechen. Unter anderem, zitierte Orban, möge er nicht über "inexistente rumänische Verwaltungsgebiete" reden - eine Anspielung auf Autonomieforderungen für die Ungarn im Szeklerland. "Wir haben nie behauptet, dass Siebenbürgen und das Szeklerland rumänische Gebietseinheiten sind", polemisierte Orban. Es war der Augenblick in seiner Rede, in der er den längsten Beifall bekam.

Szekler-Ungarn begehen den nationalen Feiertag der Ungarn in aller Welt, hier am 15.03.2013 in der siebenbürgischen Stadt Kezdivasarhely, mit einem Umzug mit Pferdekutschen und Fahnen
Szekler-Ungarn in der siebenbürgischen Stadt Kezdivasarhely (Targu Seciuesc) am 15.03.2013, dem nationalen Feiertag der Ungarn in aller WeltBild: Vadim Ghirda/AP Photo/picture alliance

Insgesamt äußerte Ungarns Premier in seiner Rede keinen grundlegend neuen Gedanken und nichts, was er nicht in der einen oder anderen Form schon gesagt hätte, mal offen, mal verklausuliert. Neu und bemerkenswert an seiner diesjährigen Rede in Bad Tuschnad sind hingegen die Tiefe seines Antiamerikanismus und seiner Verachtung Europas wie auch die bewundernde Verklärung Chinas und die offensive Nachsicht gegenüber Russland. Neu ist ebenso die immer größere Mutwilligkeit, mit der Orban Sachverhalte verdreht, etwa, wenn er über die Aufklärung spricht oder "dem Westen" unterstellt, Krieg sei einer seiner Grundwerte.

Ungarn: International isoliert

Auch als Großungarn-Nostalgiker tritt Orban schon seit Jahren auf - beispielsweise hängt in seinem Arbeitszimmer eine historische Großungarn-Karte. Neu ist, dass er die Zugehörigkeit Siebenbürgens und des Szeklerlandes zu Rumänien offen in Frage stellt, auch wenn er dafür die raffinierte - und formal korrekte - Aussage wählt, dass dies keine rumänischen Verwaltungsgebiete seien. Tatsächlich ist keine der großen rumänischen Regionen ein offizielles Verwaltungsgebiet - Rumänien hat 41 Landkreise.

Viktor Orban steht am 16.05.2022 im Budapester Parlament, während er für seine fünfte Amtszeit als Ministerpräsident vereidigt wird
Viktor Orban bei seiner Vereidigung für seine fünfte Amtszeit als Ministerpräsident im Budapester Parlament am 16.05.2022Bild: Bernadett Szabo/REUTERS

Welches diplomatische Nachspiel Orbans Rede haben wird, ist unklar. Einzig der tschechische Premier Petr Fiala äußerte scharfe Kritik an Orban, nachdem dieser gesagt hatte, Tschechien sei gegenüber Brüssel "umgefallen". In Rumänien gab es bislang keine offiziellen Stellungnahmen zu Orbans Rede, ebenso wenig in Brüssel oder in Washington. Man scheint der Provokationen des ungarischen Premiers müde zu sein, zugleich könnte das Schweigen auch ein Anzeichen dafür sein, wie isoliert Ungarn international inzwischen ist. Orban selbst möchte keinen Zweifel daran lassen, wo er steht und was von ihm zu erwarten ist. In seiner Rede sagte er: "Wir haben keine andere Wahl. Auch wenn wir Europa lieben, auch wenn es uns gehört - wir müssen trotzdem kämpfen."

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Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter