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Bildung

OECD: "Vielfalt in Schulen ist ein Vorteil"

Rahel Klein
29. Januar 2018

Eine neue PISA-Auswertung zeigt: Der Anteil von sozial benachteiligten Schülern mit guten Leistungen hat sich in Deutschland erhöht. Soziale Durchmischung ist dabei wichtig, sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher.

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Symbolbild | Schule Unterricht Schulklasse Schüler
Bild: imago/photothek/M. Gottschalk

Deutsche Welle: Herr Schleicher, sogenannte "resiliente" Schüler sind Ihrer Definition nach Schülerinnen und Schüler aus einem bildungsfernen Elternhaus, die trotzdem solide Schulleistungen erzielen. Im Jahr 2006 war nur jeder vierte benachteiligte Schüler in Deutschland resilient - 2015 fast schon jeder Dritte. Das hat Ihre jüngste Auswertung der PISA-Studien ergeben. Wie erklären Sie sich diesen starken Anstieg?

Andreas Schleicher: Gerade zu Beginn der 2000er wurde in Deutschland viel getan: die Einführung von Ganztagsschulen, die stärkere Zusammenführung von Haupt- und Realschulen, die frühere Förderung, Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund, Sprachförderung. Ich denke, da hat Deutschland viel bewegt, um ein Umfeld zu schaffen, das Resilienz stärkt. Und heute kann man im Grunde die Früchte davon sehen.

Infografik Anteil resilienter Schülerinnen und Schüler in Deutschland (in %) DEU

Was sind die wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen, dass benachteiligte Schüler gut abschneiden?

Das Umfeld in der Schule ist sehr entscheidend. Wir sehen, dass eine stärkere soziale Durchmischung an den Schulen vor allem sozial benachteiligten Schülern hilft, diesen Teufelskreis zwischen Benachteiligung und schwachen Leistungen zu durchbrechen.

Aber auch ein Arbeitsklima, wo die Schüler sich verstanden, gefördert und gefordert fühlen, ist entscheidend. Das wiederum wird durch stabile Kollegien bestimmt, aber auch durch eine Schulleitung, die die Lehrer bei der Gestaltung der Lern- und Arbeitsumgebung mitnimmt, und auch die Möglichkeit, außerhalb des Klassenverbands in der Schule Dinge zu tun - das Thema Ganztagsschule ist ein wichtiger Faktor.

Andreas Schleicher
Andreas Schleicher, Bildungsdirektor bei der OECDBild: picture-alliance/dpa

Was könnten Schulen oder Lehrer in Deutschland denn tun, damit der Anteil noch weiter steigt? Da ist ja noch Luft nach oben.

Absolut. Es ist wichtig, dass uns im Bewusstsein bleibt, dass Vielfalt in den Schulen kein Hindernis, sondern eher ein Vorteil sein kann. Lehrer sollten sich noch stärker mit der Individualisierung des Lernens befassen, individuell auf die unterschiedlichen Stärken und Schwächen eingehen. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit. Außerdem müssen wir die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen gewinnen und die fähigsten Schulleiter für die schwierigsten Schulen.

Und was müsste auf politischer Ebene passieren?

Es fängt an bei den Ressourcen. Man muss sagen, dass in den ersten Lebens- und Schuljahren Deutschland immer noch relativ wenig in Bildung investiert, und da werden die ganz entscheidenden Grundlagen gelegt.

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung wird es 2025 deutlich mehr Schüler geben als von der Kultusministerkonferenz bisher erwartet. Was bedeutet das für den künftigen Bildungserfolg benachteiligter Schüler?

Die Studie zeigt, dass die Größe der Klassen nicht unbedingt einen negativen Einfluss auf Resilienz oder Lernerfolg hat. Die Frage ist eher: Wie können wir die Lehrkräfte in ihrer sehr schwierigen Arbeit besser unterstützen? Das heißt mehr Weiterbildung, mehr Fortbildung, flexiblere Arbeitsbedingungen und überhaupt ein Schulklima schaffen, an dem ständig innerhalb der Schule und außerhalb des Klassenverbandes an Verbesserungen gearbeitet wird. Ich glaube, die Arbeits-, Lern- und Unterrichtsbedingungen für die Lehrkräfte verbessern, das muss an allererster Stelle stehen.

Infografik Anteile resilienter Schülerinnen und Schüler weltweit (in %) DEU

In Hongkong liegt der Anteil erfolgreicher Schüler aus benachteiligten Familien bei über 50 Prozent. Was können wir von anderen lernen?

Was den Ländern in Ostasien besonders gut gelingt, ist, die starken Schulen mit den schwächeren Schulen zu verknüpfen, sodass dort der Austausch stattfindet - aber auch die Möglichkeit, außerhalb des Klassenverbandes viel tun zu können.

Denken Sie an einen Lehrer in Shanghai: Der hat zwar eine große Klasse, aber er unterrichtet nur zwischen elf und 16 Stunden, also etwa gerade die Hälfte der Stunden, die ein Lehrer in Deutschland leistet. Dafür gibt es so viel mehr Zeit, mit Kollegen zu arbeiten, mit Schülern außerhalb des Klassenverbandes zu arbeiten und die Eltern in ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen. Der Raum, der in den asiatischen Ländern geschaffen wird, um sozialer Benachteiligung entgegenzuwirken, ist enorm. Und das führt dazu, dass sozialer Hintergrund deutlich weniger Einfluss auf den Bildungserfolg hat.

Beim Thema Chancengleichheit liegt Deutschland noch immer unterhalb des OECD-Schnittes. Wieso tun wir uns dabei so schwer?

Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Die frühe Förderung kommt ja jetzt erst auf Hochtouren. Wenn man auf die Vergangenheit schaut - und das sind heute ja eben die 15-Jährigen - da haben viele Schüler noch nicht die Art von Förderung, den Bildungsauftrag im Kindergarten erlebt, der entscheidend ist. Aber auch die relativ frühe Aufteilung von Schülern auf die verschiedenen Schulformen ist ein Faktor, der den Einfluss vom sozialen Hintergrund auf Bildungserfolg noch mal deutlich verstärkt.

Was müsste passieren, damit in Deutschland mehr Chancengleichheit bei der Bildung herrscht?

Wir müssen stärker individualisieren. Wir müssen weniger darauf achten, wo wir den Schüler jetzt hinschicken, und uns stattdessen überlegen, was die Bildungseinrichtung für den einzelnen Schüler tun kann - in einem ganztägigen Bildungsangebot. Damit kann man viel erreichen.

 

Andreas Schleicher ist Bildungsdirektor bei der OECD und internationaler Koordinator für die PISA-Studien.

Das Interview führte Rahel Klein