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Glaube

Nur wenn ich lebe, lebe ich.

26. Juni 2022

Endlich wieder hinauskommen an die Luft, sich bewegen, Grenzen austesten, die Natur genießen und die treffen, die man gerne trifft. Horizont und Hoffnung, atmen und träumen machen stark und frei.

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Augsburg | Fuggerei: Rauminstallation in der Markuskirche
Bild: Eleonora Weiß

Mein Vater geriet ab und zu außer sich. Das konnte wunderbar sein, aber auch bedrohliche Formen annehmen. Diese Erfahrung teile ich mit vielen Nachkriegskindern, deren Eltern, jung durch den entsetzlichen 2. Weltkrieg traumatisiert, einen holprigen Weg durch das Leben gingen.

Wunderbar war, wenn mein Vater mit uns spielte, Puppenhäuser oder Winddrachen bastelte und dabei selber wieder wie ein Kind wurde. Seine ansonsten streng zurückgekämmten Haare, mit Pomade fixiert, verloren ihren Drill, wurden weich und flogen wie Vogelfederchen um seinen Kopf. Fast verschämt strich er sie zurück, wenn er sich der Situation bewusst wurde und erschrocken zurück in die Rolle des „Familienoberhauptes“ fiel.

Verstörend waren dagegen die unkontrolliert zornbebenden Ausraster, wenn er seine Wut nicht beherrschen konnte. Heute weiß ich, dass ihn etwas an unserem Tun oder Lassen triggerte und ihn dadurch die schlecht vernarbten Wunden der Gewalt und des Ausgeliefertseins in den Kriegsjahren quälten. Dann konnte mein Vater – im schlimmsten Fall – auch handgreiflich werden. Danach überkamen ihn Bestürzung, Scham, Trauer und seelische Not.

Dabei ist das „Heraustreten“ aus vorgegeben Rollen als Vater, Ehepartnerin, Kollege, Steuerzahlerin oder Chef, aus der Routine und Banalität des Alltags elementar für ein gelingendes Leben. Nur so werden Menschen sich ihrer vielfältigen Möglichkeiten bewusst, öffnen den Blick und sehen Dinge, die sie vorher noch nie oder noch nie auf diese Weise sahen.

Das Wort „existieren“ enthält in seiner Wortwurzel so unterschiedliche Bedeutungen wie „heraustreten“, „außer sich geraten“ und „staunen“. Wer nicht „heraustreten“ kann, lebt hinter verschlossenen Türen, auch wenn ihm oder ihr vielfältige Entwicklungschancen zur Verfügung stehen. Das gilt zum Beispiel für Erbinnen und Erben großer Vermögen, deren Familientradition keinen Raum lassen für einen eigenen Weg. Sie erfahren sich oft als Gefangene, die zu einem „Lebenslang“ verurteilt wurden.

Wer sich immer in der Hand haben muss, eingesperrt in beklemmende Grenzen rigider religiöser oder moralischer Vorstellungen, hat irgendwann keine Kraft mehr durchzuatmen und vergiftet damit nicht nur sich, sondern auch die, die mit ihm leben. Bricht sich die eingepferchte Lebenskraft dann trotzdem Bahn, reißt sie wahllos alles mit - das Gelungene sowie das, was verkümmerte oder verleugnet wurde.

Dabei kann diese Lebenskraft in jedem Menschen auch ihre zarten Bahnen ziehen. Bei meinem Vater war es das Staunen: Er konnte staunen, auch das wie ein Kind. Wenn er den Weihnachtsbaum fertig geschmückt hatte – sein Privileg –, zurücktrat und das Werk musterte, wurden seine Augen groß und weit. Wenn der Drache im Herbstwind höher und höher stieg oder in der letzten bewussten Stunde meines Vaters eine Amsel unermüdlich vor seinem Fenster sang – dann war er ganz und gar da und er selber und wagte sich in himmlische Weiten.

Menschen brauchen etwas, das ihnen Horizonte eröffnet, besonders dann, wenn sie physisch wie psychisch hinter Gittern sitzen: eine Vision, die Flügel verleiht, einen Traum, ein Buch, ein Vogellied, damit sie lebendig sein können.

Von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu heißt es in der Pfingsterzählung, dass sie außer sich gerieten vor Staunen, als der Geist dieses Menschen sie vom Grund ihrer Seele her ergriff und über die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrungen hinaustrug. Ein Symbol dieser berührungslosen, aber wirkmächtigen Begegnung ist für mich eine Installation in der Markuskirche der Fuggerei in Augsburg, einer der ältesten Sozialsiedlungen der Welt..

Ihre BewohnerInnen haben zum 500jährigen Jubiläum ihrer kleinen Stadt Wünsche, Träume und Hoffnungen federleichten, durchsichtigen Kugeln anvertraut (s. Bild). Sie bewegen sich wie schwerelos hoch oben in der siedlungseigenen Markuskirche. In ihrer unschuldigen Verspieltheit erahne ich, dass es gut ist und gut tut, für das eigene Leben und das der ganzen Welt zu bitten, und sei es so verhalten wie der Tanz eines Ballons im Luftzug einer sich öffnenden Tür.

 

Aurelia Spendel OP, Dominikanerin, Dr. theol., arbeitet in der Geistlichen Begleitung, moderiert Ordensentwicklungen- und -kapitel, Autorin.