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Norbert Wollheim gegen IG Farben

Michael Marek20. November 2012

Am 30. Juli 1948 ging der Prozess gegen die IG Farben zu Ende. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg war gegen ein deutsches Unternehmen geklagt worden, das Zwangsarbeiter beschäftigt hatte.

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Am 20. November 1952 begann vor dem Landgericht Frankfurt am Main die Zeugenvernehmung im Prozess gegen die Interessengemeinschaft Farbenindustrie Aktiengesellschaft, kurz IG Farben. Das ehemals größte Chemieunternehmen der Welt hatte in Auschwitz Häftlinge für sich arbeiten lassen. Die meisten starben durch mörderische Arbeitsbedingungen.

Das Verfahren hatte der Auschwitz-Überlebende Norbert Wollheim angestrengt. Vor Gericht forderte Wollheim 10.000 D-Mark Schmerzensgeld und Schadenersatz für die ohne Lohn unter lebensbedrohenden Bedingungen erzwungene Arbeit als Schweißer im Konzentrations- und Vernichtungslager. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde damit erstmals gegen ein deutsches Unternehmen geklagt, dass Zwangsarbeiter beschäftigt hatte.

Was ist mit uns?

Norbert Wollheim wurde 1913 in Berlin geboren. Sein Jurastudium musste er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und den Nürnberger Rassegesetzen 1935 abbrechen. Wollheim ist Jude. Bevor er 1943 verhaftet und deportiert wurde, kümmerte er sich als Sozialarbeiter um die Auswanderung jüdischer Kinder. In Auschwitz wurden seine Frau Rosa und sein dreijähriger Sohn Uriel in der Gaskammer ermordet. Nach seiner Befreiung in Auschwitz 1945 ließ Wollheim sich in Lübeck nieder, wo er sich für Displaced Persons einsetzte, vor allem für Zwangsarbeiter und Verschleppte der NS-Herrschaft.

Das undatierte Archivbild zeigt das Konzentrationslager der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz, in dem mindestens 30 000 Zwangsarbeiter getötet worden sind. Die IG-Farben-Gesellschaft Degesch produzierte hier das berüchtigte Gift "Zyklon-B" für die Vernichtungs-Gaskammern. (Foto: dpa)
Auschwitz-Monowitz IG FarbenBild: picture-alliance/dpa

"Eines Tages haben die IG Farben eine Anzeige geschaltet", schrieb Wollheim 1950 an seinen Anwalt Henry Ormond, auch er ein Verfolgter des NS-Regimes, "weil die meisten Papiere während des Krieges verlorengegangen waren, sollten sich die früheren Aktionäre melden. Und ich sagte mir: Mein Gott, wenn die Aktionäre berechtigt sind, Ansprüche zu stellen, was ist mit uns?" Obwohl der Prozess gegen die IG Farben zu einem Musterverfahren wurde, wanderte Wollheim noch vor der Klageeinreichung im November 1951 in die USA aus. Von dort verfolgte er das Verfahren, das sein Anwalt für ihn als Prozessbevollmächtigter führte.

Weltgrößter Chemiekonzern

Beklagter war der in Liquidation befindliche Firmengigant IG Farbenindustrie mit Sitz Frankfurt am Main. Der Konzern wurde kurz nach Kriegsende 1945 unter die Aufsicht der Alliierten gestellt, um den einst mächtigen Chemiekonzern zu entflechten und in Einzelfirmen zu zerlegen.

Ohne die nationalsozialistische Kriegsmaschine wäre der wirtschaftliche Aufstieg der IG Farben undenkbar gewesen: Ob Flugzeuge, Brandbomben, Handgranaten, Maschinengewehre oder Fotopapier - nirgends fehlte das einschlägige Logo, ein stilisierter Rundkolben mit den Initialen der Firmen. Der Konzern lieferte 100 Prozent des synthetischen Kautschuks und knapp die Hälfte des Benzins. Die IG Farben stellten 100 Prozent des Methanols her, 100 Prozent der Schmieröle, 95 Prozent der Giftgase und vieles mehr. Es waren Zwangsarbeiter, die nach 1939 in der Produktion eingesetzt wurden.

Fahrlässige Körperverletzung

Mitte Januar 1952 wurde der Prozess vor dem Frankfurter Landgericht eröffnet, am 20. November begannen die Zeugenvernehmungen. Das Verfahren erregte großes öffentliches Aufsehen. Der Prozess wurde als Musterprozess wahrgenommen, in dem die Verantwortlichkeiten von Firmen und Managern für Verbrechen während der NS-Zeit verhandelt wurden. Die Anwälte der IG Farben argumentierten, Wollheim sei weder geschlagen noch verletzt worden. Sie behaupteten sogar, das Lager Auschwitz-Monowitz sei gerne von den Häftlingen aufgesucht worden und dass der Wirtschaftskonzern die Zwangsarbeiter vor der Gaskammer gerettet habe.

Trotzdem gab das Gericht Wollheim in allen Punkten Recht. Es wertete den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung als erfüllt. Die IG Farben habe Körper und Gesundheit des Klägers schuldhaft verletzt und ihrer elementaren Sorgfaltspflicht nicht genügt. Damit konstatierte erstmals ein deutsches Gericht die Mitverantwortung einer Firma, die die Arbeitskraft der Häftlinge ausgebeutet hatte. Außerdem wurde die Entschädigungspflicht von Unternehmen grundsätzlich festgestellt.

Das Logo der IG Farben
Das Logo der IG Farben

Außergerichtlicher Vergleich

Die Nachricht vom Prozesserfolg Wollheims wurde von den Presseagenturen, den Zeitungen und im Hörfunk verbreitet - nicht nur in Deutschland, sondern auch in jenen Ländern, in denen ehemalige Zwangsarbeiter lebten. In den Tagen nach dem Urteil kam Wollheim nicht zur Ruhe. Pausenlos erreichten ihn in den USA Telefonanrufe. Zahlreiche Überlebende meldeten sich, um ihm Fragen zu stellen und mehr über den Prozess zu erfahren. Darunter vor allem Schicksalsgenossen aus Auschwitz.

Die Anwälte der unterlegenen IG Farben legten Berufung ein, denn die Firma musste davon ausgehen, dass weitere Zwangsarbeiter sich zu Klagen ermutigt fühlten. Die "Conference of Jewish Claims against Germany" unterstützte von nun ab Wollheim finanziell, denn die Kosten des Rechtsstreites drohten seine Möglichkeiten und die der Kanzlei Ormond zu übersteigen. 1957 kam es zu einem außergerichtlichen Vergleich: Die "Claims Conference" erhielt 30 Millionen D-Mark zur eigenverantwortlichen Verteilung an Verfolgte und Opfer des Nationalsozialismus. Davon gingen 27 Millionen an überlebende jüdische Zwangsarbeiter. Im Gegenzug musste die Claims Conference zusichern, dass die IG Farben in Liquidation in Zukunft von allen Einzelansprüchen früherer jüdischer Häftling verschont bleiben werde.

Mahnmal für Wollheim

Die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter gingen im Wollheim-Prozess fast leer aus. Ebenso all jene, die in den Staaten des damaligen Ostblocks wohnten. 2003 meldete die IG Farben in Liquidation Insolvenz an. Mit den Aktien konnte aber weiterhin spekuliert werden: Bis zum 9. März 2012 wurden die Anteilscheine gehandelt und notiert - übrigens in deutscher Reichsmark. Seitdem wurde der Handel an den Börsen eingestellt.

Nach dem Prozess lebte und arbeitete Norbert Wollheim in den Vereinigten Staaten unter schwierigen Verhältnissen als Wirtschaftsprüfer. Bis zuletzt beobachtete er von dort den Prozess. Später half er dabei, die Gelder aus dem Vergleich mit der IG Farben an ehemalige Zwangsarbeiter zu verteilen. Wollheim gehörte zu einer New Yorker Gruppe ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, die Anträge aus den Vereinigten Staaten auf ihre individuelle Berechtigung prüfte. 1998 starb Norbert Wollheim in seiner Wahlheimat am Big Apple. Heute erinnert auf dem Campus der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main das Wollheim-Memorial an das Verfahren und seinen mutigen Initiator.