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Nebenklage im NSU-Prozess

Andrea Grunau6. Mai 2014

Ein Kinderfoto seines Sohnes hat Ismail Yozgat ins Gericht getragen. Schmerz zeigen, aber vor allem die Morde aufklären: Dazu wollen Angehörige der NSU-Opfer als Nebenkläger seit einem Jahr beim NSU-Prozess beitragen.

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Blick auf die Nebenklägerbank beim NSU-Prozess mit Ismail Yozgat, der ein Foto seines Sohns Halit an den Tisch gehängt hat (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images

"Ich bin Ismail Yozgat, Vater des 21-jährigen Halit Yozgat, der unschuldig in Deutschland getötet wurde", so beginnt der Vater im März 2014 seine Erklärung beim NSU-Prozess. Sein Sohn starb am 6. April 2006 in seinen Armen, das hatte Yozgat schon früher unter Tränen im Gerichtssaal nachgestellt. Zweimal hatte man ihm in seinem Kasseler Internetcafé in den Kopf geschossen. Zur Tatzeit surfte dort der hessische Verfassungsschützer Andreas T. im Internet. Halit Yozgat gilt als neuntes und jüngstes von zehn Todesopfern in der Terrorserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Beim Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte kämpfen seine Eltern zusammen mit ihren Nebenklage-Anwälten darum, dass die Umstände des Mordes an ihrem Sohn umfassend aufgeklärt werden.

Quälende Verhöre und Verdächtigungen musste Familie Yozgat nach dem Mord über sich ergehen lassen. "Genauso, wie wir immer ausgesagt haben, wollen wir, dass alle Akten hergegeben werden", mahnte Mutter Ayse Yozgat schon im Herbst beim NSU-Prozess. Der Familie und ihren Anwälten ging es darum, alle Unterlagen zu Verfassungsschützer Andreas T. in die Prozess-Akten aufzunehmen. Gegen ihn, der sich nach dem Mord an Halit Yozgat gar nicht als Zeuge meldete, hatte die Polizei eine Zeit lang als Tatverdächtigen ermittelt und ihn überwacht. Darüber gibt es Aufzeichnungen.

Nebenklage kritisiert Bundesanwaltschaft

Das Gericht lehnte es zunächst ab, alle Akten beizuziehen. Die Nebenklage-Anwälte der Familie Yozgat reisten nach Karlsruhe und arbeiteten die Unterlagen bei der Bundesanwaltschaft durch, berichtet der Hamburger Rechtsanwalt Thomas Bliwier. Anfangs bekamen sie Kopien, dann stellten sie Beweisanträge, weitere Zeugen vorzuladen. Dann gab es keine Kopien mehr.

Für den Prozessanwalt ist das ein Beleg dafür, wie wichtig die Nebenklage im NSU-Verfahren sei. "Die Bundesanwaltschaft möchte die ganzen Hintergründe nicht aufgeklärt haben", sagt Bliwier, sie schütze staatliche Stellen. Kritik an der Bundesanwaltschaft üben viele Nebenklage-Anwälte. Mehr als 30 von ihnen haben das im Februar in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt.

Porträt des Rechtsanwalts Thomas Bliwier (Foto: bdk Rechtsanwälte)
NSU-Nebenklage-Anwalt Thomas BliwierBild: bdk Rechtsanwälte

Die Ankläger argumentieren dagegen: Der Prozess sei kein Untersuchungsausschuss, man wolle nur direkt zur Schuldfrage der Angeklagten verhandeln und den Prozess nicht verschleppen oder gefährden. Das überzeuge Familie Yozgat und ihre Anwälte aber nicht, sagt Bliwier: "Inwieweit der Verfassungsschutz in diese Tat verstrickt war, gehört in diesen Prozess, damit danach auch für die Opfer Rechtsfrieden eintritt". Selbst wenn die Angeklagten dadurch entlastet würden, sei das in Ordnung, es zähle nur die Aufklärung. Der Prozess gehe trotz der umfangreichen Zeugen- und Sachverständigenliste mittlerweile zügig voran.

Eine aktive Rolle im Prozess spielen

Den Eltern und Geschwistern von Halit Yozgat gehe es nicht um einen schnellen Prozess, die Höhe einer Strafe und "schon gar nicht um Rache-Gefühle", berichtet Anwalt Bliwier. Sie beteiligten sich am Prozess, weil sie genau wissen wollten, was passiert sei. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl kann die Argumente der Nebenkläger offenbar nachvollziehen: Er hat Anträgen der Nebenklage Yozgat stattgegeben, so dass mehrere Verfassungsschutz-Mitarbeiter aus Hessen nach München geladen wurden.

Die Eltern von Halit Yozgat erheben betend die Hände (Foto: dpa)
Die Eltern von Halit Yozgat beten für die NSU-MordopferBild: picture-alliance/dpa

Kurz nach dem achten Todestag seines Sohnes konnte Ismail Yozgat im April 2014 Andreas T., den er aus dem Internetcafé von früher kannte, selbst im Gerichtssaal zu zahlreichen Widersprüchen befragen: Etwa, wie es sein könne, dass der etwa 1,90 Meter große Verfassungsschützer, der am Mordtag Halit Yozgat gesucht haben will, um zu zahlen, angeblich nicht sah, dass der blutüberströmt hinter einem niedrigen Tisch lag: "Ich glaube dir überhaupt nicht", stellte Ismail Yozgat fest. "Die Familie war danach erleichtert und sehr zufrieden, dass sie die Gelegenheit hatte, das Wort zu ergreifen und eine aktive Rolle im Prozess zu spielen", sagt Bliwier.

"Ich habe den Polizisten gesagt, dass die Mörder meines Sohnes Ausländerfeinde waren, sie glaubten uns aber nicht", auch das berichtete Ismail Yozgat am 13. März vor Gericht. Heute darf er sprechen, heute hört man ihm zu. Nach dem Mord unterstellte man Halit Yozgat und seinen Angehörigen wie vielen Familien der Opfer kriminelle Verstrickungen und Drogengeschäfte. Das begann schon mit dem ersten NSU-Mordopfer, dem Blumenhändler Enver Simsek, der am 9. September 2000 in Nürnberg in seinem Transporter erschossen wurde.

Endlich hören, dass der Verdacht gegen den Vater falsch war

Tochter Semiya Simsek sagte 2012 bei der Trauerfeier für die NSU-Opfer in Berlin: "Wir durften nicht einmal Opfer sein". Noch vor dem Prozess schrieb sie ein Buch über die bitteren Erfahrungen der Familie nach dem Mord an ihrem Vater. Als sie im Gerichtssaal saß und aus dem Mund der Nürnberger Ermittler hörte, dass alle Verdächtigungen falsch waren, sei es für sie "der erlösendste Moment dieses Prozesses" gewesen, sagt ihr Anwalt Jens Rabe.

Semiya Simsek mit Anwalt Jens Rabe beim NSU-Prozess (Foto: AFP/Getty Images)
Semiya Simsek mit ihrem Anwalt Jens Rabe beim ProzessBild: Christof Stache/AFP/Getty Images

Nicht alle sind einsichtig: Ein Beamter aus München erklärte auf die Frage nach Ermittlungen in die falsche Richtung, man solle doch nicht so tun, "als ob es keine Türkenmafia gebe". Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer und Hinterbliebenen, hat bei den Familien oft nachgefragt, ob sich die Polizei bei ihnen gemeldet habe, um zu sagen: "Furchtbar, dass wir das damals anders gesehen haben. Wir möchten uns bei Ihnen entschuldigen". John berichtet: "Das ist in einem Fall vorgekommen, bei den meisten nicht".

Beate Zschäpe schweigt, die Familien hoffen

Wie Familie Yozgat und andere wünscht sich auch Semiya Simsek Aufklärung durch den NSU-Prozess. Sie hatte sehr gelitten, als sie im NSU-Bekennervideo im Herbst 2011 sah, dass die Mörder ihren sterbenden Vater fotografiert hatten, dass sie ihn und andere Opfer verhöhnten. Sie hat gehofft, dass Beate Zschäpe aussagen würde, auch wenn sie weiß, dass sie schweigen darf. Warum musste ihr Vater sterben? Das möchte sie wissen. Bei der Prozesseröffnung vor einem Jahr kam es im Sitzungssaal A101 zum Blickkontakt zwischen beiden Frauen, berichtet Jens Rabe, "das hatte etwas Unheimliches für Semiya Simsek".

Halits Mutter Ayse Yozgat richtete sich im Oktober 2013 direkt an Beate Zschäpe. Sie appellierte an sie von Frau zu Frau, doch noch auszusagen. Sie berichtete, dass sie selbst seit der Ermordung ihres Sohnes kaum noch schlafen könne. "Denken Sie an mich, wenn Sie sich ins Bett legen", sagte sie. Auch wenn Zschäpe nicht aussagen sollte, werden Nebenkläger und Anwälte weiter um eine umfassende Aufklärung kämpfen. Thomas Bliwier sagt, man habe weitere Hinweise darauf, "dass der Verfassungsschutz die Aufklärung massiv behindert hat", das solle beim Prozess zur Sprache kommen.

Ayse Yozgat beim NSU-Prozess (Foto: dpa)
Mutter Ayse Yozgat beim NSU-ProzessBild: picture-alliance/dpa

Vertrauen zum Gericht, doch Fragen bleiben offen

Ismail Yozgat sagte im März beim Prozess: "Ich vertraue völlig dem Gericht". Auch Familie Simsek, berichtet Jens Rabe, fühle sich heute bei dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl gut aufgehoben. Trotzdem wisse Semiya Simsek, "dass sie auf viele Fragen leider keine Antworten mehr bekommen wird". Vor zwei Jahren hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Angehörigen rückhaltlose Aufklärung versprochen. Wenn man ein Resümee über den Strafprozess hinaus ziehe, müsse man feststellen, dass Politiker und Behördenspitzen diese Aufklärung nicht umsetzten, sagt Rabe.

Auch für Ismail Yozgat wird wohl ein großer Wunsch offen bleiben. Er möchte, dass die Holländische Straße in Kassel, wo sein Sohn geboren und ermordet wurde, in Halit-Straße umbenannt wird. Doch der Widerstand war groß, nur ein bis dahin namenloser Platz mit Straßenbahn-Haltestelle wurde zum Halit-Platz. In seiner Prozess-Erklärung im März sagte Ismail Yozgat, was er tun würde, wenn er doch noch die Halit-Straße eröffnen könnte: Die Hinterbliebenen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die als NSU-Todesschützen gelten, zu einer Versöhnungsfeier einladen: "Unser Ziel ist: Es sollen keine Menschen mehr getötet werden".

Bei einer Gedenkfeier liegen Fotos der NSU-Mordopfer auf einer Wiese (Foto: dpa)
Fotos der NSU-Mordopfer bei einer Gedenkfeier in KasselBild: picture-alliance/dpa