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Politik

"Nachts fühle ich mich bei euch nicht sicher"

Nina Niebergall
16. Januar 2017

Eine Schülerin aus Jena wird in einem Club angefasst, bedrängt, gegen ihren Willen geküsst. Sie beschreibt, was viele Frauen kennen. In einem offenen Brief konfrontiert sie nun Diskotheken und die Öffentlichkeit.

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Deutschland Musik Diskothek Rockfabrik Ludwigsburg
Bild: picture-alliance/dpa

"Du gehst durch einen Club und hast auf einmal Hände an deinem Körper, an deinem Hintern, an der Brust", beschreibt die 19-jährige Alina Sonnefeld eine Situation, die sie häufig erlebt hat, seit sie vor drei Jahren angefangen hat, auszugehen. Einmal habe ein Mann sie sogar wiederholt bedrängt, obwohl sie ihn mehrmals weggestoßen hatte. Plötzlich küsste er sie. In einem offenen Brief klagt die junge Frau nun Diskotheken in der ostdeutschen Stadt Jena an: "Nachts fühle ich mich bei euch nicht sicher."

Dabei habe sie gerade die alternativen Clubs ihrer Heimatstadt "eigentlich ganz schön gern". Eines gehe jedoch zu weit: "Ab einer bestimmten Uhrzeit werde ich oft gegen meinen Willen angefasst, geküsst, belästigt."

Ganz normal?

"Am Anfang dachte ich, dass es normal ist", sagt die Schülerin. Erst nachdem sie sich mehr mit Sexismus beschäftigt habe, sei ihr aufgefallen, dass dem nicht so ist. "Mir sind sehr viele Situationen passiert, die unglaublich unangenehm und gar nicht lächerlich oder harmlos waren." An die Öffentlichkeit sei sie nun gegangen, weil sie gemerkt habe, dass es vielen Frauen so geht wie ihr. "Da dachte ich: Das kann ja wohl nicht wahr sein, da müssen wir etwas machen." Sechs von ihren Freundinnen haben Alina Sonnefelds Brief ebenfalls unterzeichnet, der dann in der Ostthüringer Zeitung abgedruckt wurde.

Porträt Alina Sonnefeld
Schülerin Sonnefeld:"Angefasst, geküsst, beleidigt"Bild: Gianina Morgenstern

Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle von der Technischen Universität Dortmund hat bereits mehrere repräsentative Untersuchungen zu Gewalt gegen Frauen durchgeführt. Tatsächlich gäben rund 60 Prozent aller Frauen und Mädchen an, schon einmal sexuelle Belästigung erlebt zu haben, sagt die Professorin. Eine andere Zahl steht dazu im drastischen Gegensatz. So sind in Thüringen, dem Bundesland, in dem Jena liegt, die Anzeigen wegen sexueller Belästigung im vergangenen Jahr gegen Null gegangen.

Alina Sonnefeld und ihre Freundinnen hatten die Belästigungen ebenfalls nicht sofort dem Sicherheitspersonal der Diskotheken gemeldet. Heute bereue sie das, gibt die 19-Jährige zu. In ihrem offenen Brief gibt sie den Jenaer Clubs allerdings eine Mitschuld: "Die Atmosphäre bei euch fühlte sich für mich nie so an, als ob ein offenes Ohr auf mich wartet."

Ängste und Hemmschwellen

Die angesprochenen Diskotheken reagierten verständnisvoll. Sara Gaßen von dem traditionsreichen Jenaer Studentenklub "Rosenkeller" meint, für Frauen sei die Hemmschwelle oft groß, mit Fremden über sexuelle Belästigung zu sprechen. "Manche denken auch, sie würde uns Ärger bereiten. Das ist aber keineswegs der Fall", betont Gaßen. 

Je nachdem wie massiv sie belästigt worden seien, wollten Betroffene womöglich nicht, dass der oder die Verantwortliche gleich aus dem Klub geworfen wird, meint auch Sozialwissenschaftlerin Schröttle. Umgekehrt könnten Frauen nicht darauf vertrauen, dass ihre Beschwerden überhaupt eine Reaktion nach sich ziehe.

Die Genderforschung weiß: Sexismus profitiert von bestehenden Machtverhältnissen wie der gesellschaftlichen Ungleichheit von Mann und Frau. Werden Frauen sexuell belästigt, finden sie sich meist zurückgeworfen - auf eine vermeintlich unterlegene Position. Das macht es für Betroffene schwerer, sich an Polizei, Vorgesetzte oder eben das Sicherheitspersonal einer Diskothek zu wenden.

Monika Schröttler, TU Dortmund
Sozialwissenschaftlerin Schröttle: Rund 60 Prozent aller Frauen erleben sexuelle BelästigungBild: privat

"Ein gesellschaftliches Thema"

Männer, die übergriffig werden, hätten unterschiedliche Motive, so Forscherin Schröttle. "Einige verfügen über eine gesellschaftliche Machtposition und akzeptierten kein grenzensetzendes Verhalten von Frauen. Andere nehmen sich als untergeordnet war, sehen aber diesen Status als nicht vereinbar mit ihrer Vorstellung von Männlichkeit und kompensieren das, indem sie Frauen demütigen." Die Täter ließen sich darüber hinaus kaum kategorisieren.

"Es gibt aus jeder Schicht und egal ob männlich oder weiblich immer Personen, die persönliche Bedürfnisse einer Person nicht anerkennen und sich falsch verhalten", meint auch Sara Gaßen vom "Rosenkeller".

"Es war sehr schwer für mich, festzustellen, dass ich mich in diesen Räumen, in denen Menschen meine politischen Vorstellungen und meine Philosophie teilen, doch nicht frei bewegen kann", sagt Alina Sonnefeld. Gleichzeitig betont die Schülerin, dass es in anderen Diskotheken keinesfalls besser sei.

Wahr gewordene Ängste

Sei es aus Scham, Unwissenheit oder aus Angst vor den Reaktionen - noch seltener, als dass sie es der Polizei melden, prangern Frauen sexuelle Belästigung öffentlich an. In der Vergangenheit wurde den Betroffenen oft entweder Feigheit oder absichtliche Diffamierung von Tätern vorgeworfen.

Auch Alina Sonnefeld hat nicht nur positive Reaktionen auf ihren offenen Brief erlebt: "Meine größten Ängste, die mich nicht zur Security haben gehen lassen, sind wahr geworden." Im Internet sei sie Kommentaren ausgesetzt, die ihren Appell oder sie selbst lächerlich machen oder das Sexismus-Problem als irrelevant abtun. Dann gebe es noch diejenigen, die ihr vorwerfen, sie sei selbst Schuld, dass sie bedrängten und begrapscht wurde. Weil sie politisch links sei, so die Logik der Kritiker, wären die Flüchtlinge hier, die für das alles verantwortlich seien. Dabei waren es in Alina Sonnefelds Fall meist gewöhnliche deutsche Clubgänger, die sie sexuell belästigten.

Trotz der teils heftigen Diskussionen sei sie froh, ihre Erlebnisse mit der Öffentlichkeit geteilt zu haben - "damit vielleicht mehr 16-jährige Mädchen denken: Ich kann und muss mich wehren." Die Clubszene Jenas ist bereits auf die Schreiberinnen zugegangen. Bei einem Treffen habe man sich darauf geeinigt, Infoplakate zu gestalten und Sicherheitskräfte besser kenntlich zu machen, heißt es.

"Ich weiß, ich hab mich etwas getraut, meine Stimme erhoben und jetzt ändert sich etwas", resümiert Alina Sonnefeld. "Das ist wirklich ein tolles Gefühl."