Musik als Rettungsanker
30. Mai 2010Zehn junge Musiker aus Paraguay touren gerade durch Europa. Fleißig proben die 14- bis 19-Jährigen Mozarts Kleine Nachtmusik für ihren Auftritt am Abend in Berlin. Ihre Instrumente klingen zwar fast wie eine normale Geige, ein normaler Kontrabass, eine herkömmliche Flöte. Doch was dem Betrachter hier in schillernden Farben entgegenleuchtet, sind Instrumente aus bunt zusammen gestelltem Müll.
Juan trommelt auf einem Röntgenbild, das auf ein aus dem Müll gefischten Holzring gespannt ist. Das Röntgenmaterial habe eine richtig gute Qualität zum Trommeln, erklärt der 14-Jährige. Die beiden Geiger spielen auf alten Töpfen, zum Stimmen dienen kleine Löffel. Die Querflöte besteht aus einer alten Regenrinne, ihre Griffe aus Münzen.
Der 16-jährige Mauro stieß auf Schwierigkeiten, mit seinem Kontrabass durch die Flughafenkontrollen zu kommen. Der Klangkörper war ursprünglich ein Fass, das für chemische Produkte verwendet wurde. "Am Flughafen machten sie einen riesen Terz, weil sie dachten, das könnte man anzünden oder es sei eine Bombe", sagt Mauro grinsend.
Hilfsprojekt "Klänge der Erde"
"Sonidos de la Tierra" – "Klänge der Erde"nennt sich das Projekt, in dessen Rahmen die Jugendlichen ihre Instrumente spielen lernten. Luis Szarán, international ausgezeichneter Dirigent und Leiter des Symphonieorchesters von Paraguays Hauptstadt Asunción, rief 2002 das Hilfsprojekt ins Leben. "Sonidos de la Tierra“ bietet sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, ein Instrument zu lernen. Es erreicht die Ärmsten der Armen, so auch viele Straßenkinder. "Etwa 20 Prozent der Schüler des Projekts haben auf der Straße gelebt oder in ärmsten Verhältnissen auf dem Land", sagt der weißhaarige Luis Szarán. Seine Schüler nennen den 56-Jährigen respektvoll "maestro".
Rund 12.000 Kinder und Jugendliche sind inzwischen in das Projekt involviert. Ähnliche Projeke in Costa Rica und Venezuela hätten Szarán inspiriert, doch die Idee, Instrumente aus Müll zu basteln, stamme aus Paraguay. "Ein Vater aus einem ärmlichen Viertel wollte in irgendeiner Form an dem Projekt teilhaben. So brachte er einen alten Topf und machte eine Art Geige daraus." Szarán erzählt, wie sie erst gelacht hätten. "Doch dann haben wir das Instrument ausprobiert und gemerkt, dass ein Kind auf jeden Fall in Würde seine ersten Lektionen auf diesem Instrument lernen könnte." So sei die Idee entstanden.
Neue Perspektive für Straßenkinder
Den ersten Kontakt zwischen "Sonidos de la Tierra“ und den Kindern auf der Straße stellen andere Hilfsorganisationen her, schildert der Dirigent. Manche Helfer lebten selbst erst einmal eine Zeit mit den Kindern auf der Straße, schliefen bei ihnen, beobachteten sie. Auf diese Weise lernten sie ihre Welt kennen, ihre Codes und ihre Sprache.
Die Erfolgsquote bei den aufgelesenen Straßenkindern, die bei “Sonidos de la Tierra” blieben und ein Instrument lernten, liege bei etwa 50 Prozent, sagt Szarán. Nicht alle ergriffen später den Beruf eines Musikers. Doch zumindest würden sie ins Leben zurückgeführt, beendeten die Schule und gingen einer Arbeit nach.
Szarán schildert den Fall zweier Brüder. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe die Mutter verprügelt. Eines Tages habe der acht-jährige Ältere zu seinem sechsjährigen Bruder gesagt: "Ich halte es nicht mehr aus, lass uns auf die Straße gehen.“ Und sie seien losgezogen. Szarán lernte den Älteren kennen, als dieser 14 war. "Sie hatten schon alles durchgemacht: Erst gebettelt, dann geklaut, und der Ältere hatte schließlich Drogen verkauft. Der 12-Jährige wollte gerettet werden, der Ältere aber war schon ziemlich verloren.“ Der Jüngere arbeitet inzwischen als Geigenlehrer. Sein Bruder kam bei einer Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Jugendbanden ums Leben.
Die werdenden Musiker
Die Gruppe von Jugendlichen, die gerade durch Deutschland tourt, gehöre zu den talentiertesten, sagt Szarán nicht ohne Stolz. Sie alle wollen von Beruf Musiker werden, erzählen sie. Mit leuchtenden Augen sagt der 17-jährige Flötist Diego: "Ich bin unendlich dankbar, dass ich das Leben mit den Augen eines Musikers sehen kann. Es ist so viel intensiver und leidenschaftlicher.“
Beim Konzert in Berlin bieten die jungen Musiker ein bunt zusammen gewürfeltes Programm aus klassischer Musik und traditionellen Klängen aus Paraguay. Ihrem Auftritt nach zu urteilen, steht ihrer Musikerkarriere nichts mehr im Wege.
Autorin: Tini von Poser
Redaktion: Mirjam Gehrke