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"Moskau entfernt sich von der Welt"

Alexander Prokopenko / mo29. September 2015

Der Europarat hat die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa mit dem Vaclav-Havel-Preis ausgezeichnet. Im DW-Interview spricht sie über den Zustand der russischen Demokratie und die Fragen, die sie Putin stellen will.

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Frankreich Vaclav-Havel-Preis für Menschenrechtlerin Ljudmila Aleksejewa
Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Deutsche Welle: Frau Alexejewa, am Montag haben Sie den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis erhalten. Was bedeutet er Ihnen?

Ljudmila Alexejewa: Erstens bedeutet es mir viel, dass der Preis den Namen Vaclav Havels trägt. Ich hatte die Ehre, ihn persönlich zu kennen. Er gründete die Charta 77, mit der die Menschenrechtsbewegung in der Tschechoslowakei begann. Zweitens hat mir die Parlamentarische Versammlung des Europarats den Preis zu einem Zeitpunkt überreicht, wo sich unser Land von Europa und der ganzen zivilisierten Welt entfernt. Dieses Jahr wird die russische Menschenrechtsbewegung - einschließlich der in der Sowjetzeit - 50 Jahre alt. Ich war dort von Anfang an aktiv und weiß aus eigener Erfahrung, unter welch schwierigen Bedingungen man arbeiten muss. Dieser Preis gilt auch all denen, die sich an der Menschenrechtsbewegung in unserem Land beteiligen. Ich stehe ja nicht allein da.

Wie bewerten Sie den Zustand der Demokratie in Russland?

Als die Sowjetunion zusammenbrach, bewegten wir uns in Richtung Demokratie. Wenn man sich Kapitel 2 der russischen Verfassung anschaut, wo es um Menschenrechte und Grundfreiheiten geht, dann haben wir nicht weniger Rechte und Freiheiten als in den weiter entwickelten Ländern. Doch in den vergangenen Jahren gab es Rückschritte. Das erklärt sich dadurch, dass mein Land in seiner Geschichte kaum Perioden der Freiheit kannte.

Die Zeit zwischen 1987 und Mitte der 2000er ist vielleicht die längste Zeit solcher Freiheiten. Als die UdSSR in sich zusammenfiel, erhielten wir alle Rechte und Freiheiten fast umsonst, da die Sowjetunion ja von allein zusammenbrach. Was man leicht bekommt, verliert man auch wieder schnell. Wir hatten uns unsere Freiheiten nicht erkämpft. Jetzt werden wir sie uns langsam und qualvoll erkämpfen müssen. Russland werde ich wohl nicht mehr als einen demokratischen Rechtsstaat erleben. Aber es wird ihn geben. Denn wir sind ein europäisches Land, geografisch, historisch, religiös, kulturell und auch, was die Bildung der Bevölkerung angeht. Wir werden unweigerlich ein demokratisches Land und ein Rechtsstaat werden.

Kann man sagen, dass die Menschen in Russland Ende der 1980er Jahre stärker nach Demokratie strebten als heute?

Damals dachten die Menschen: Wir verjagen die Kommunisten und werden wie in Amerika leben. Alexander Ausan, Dekan der Wirtschaftsfakultät an der Staatlichen Moskauer Universität, sagte vor kurzem zu Recht: "Meine Landsleute wollten nicht Demokratie, sondern Konsum, dass es keine Versorgungsdefizite mehr gibt." Heute sind wir eine Konsumgesellschaft. Wir müssen zumindest nicht mehr hungern, für Brot, Kartoffeln und Butter anstehen, was für Menschen erniedrigend ist. Jetzt kann man auch über Freiheit nachdenken. Wichtig ist, dass die Menschen verstehen, dass das Fernsehen lügt und sie sich darüber beschweren müssen. Das ist der Weg zur Einsicht.

Im Jahr 2012 verließen Sie den Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten. Warum kehrten sie später zurück?

Vaclav-Havel-Preis für Menschenrechtlerin Ljudmila Aleksejewa (Foto: EPA/PATRICK SEEGER (c) dpa)
Anne Brasseur (r.), Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, überreichte Ljudmila Alexejewa den Vaclav-Havel-PreisBild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Ich bin zurückgekehrt, weil Menschenrechtler es bei uns immer schwerer haben. Der Menschenrechtsrat ist eine der wenigen Plattformen, wo man irgendetwas machen und wo man zumindest etwas Gehör finden kann. Bald fliege ich nach Moskau, da für den 1. Oktober eine Sitzung im Beisein des Präsidenten geplant ist.

Welche Fragen wollen Sie Präsident Putin unbedingt stellen?

Diesmal will ich das Gesetz über ausländische Agenten ansprechen. Zum Glück fällt die Moskauer Helsinki-Gruppe nicht darunter. Aber viele sehr angesehene Organisationen stehen auf dieser empörenden und unfairen Liste. Ich will den Präsidenten überzeugen, in dieser Frage etwas zu verändern. Ich will ihn fragen: "Wladimir Wladimirowitsch, warum ist es lobenswert, wenn Gazprom oder ein Unternehmer Geld aus dem Ausland erhält? Das gilt als Investition. Auch unser Land verleiht im Ausland Geld, und auch das wird gelobt. Warum gilt eine gemeinnützige Organisation als ausländischer Agent, wenn sie Geld aus dem Ausland erhält, obwohl sie ebenfalls im Interesse des eigenen Land handelt? Warum macht man diesen Unterschied?" Ich finde keine Antwort auf diese Frage. Ich verstehe nicht, warum man uns misstraut, uns als Spione oder Verräter verdächtigt.

Sie haben sich mehrmals mit Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen. Hat sie Ihnen bei Ihrer Menschenrechtsarbeit geholfen?

Es war wunderbar, als sie das erste Mal mit Menschenrechtsaktivisten zusammentraf, bei einem Empfang in der deutschen Botschaft. Eingeladen waren Leiter prominenter Menschenrechtsorganisationen. Der Saal war voller Menschen und nachdem sie mit allen gesprochen hatte, setzte Merkel sich zu uns und begann mit uns auf Russisch zu sprechen. Alle im Saal waren sehr erstaunt und schauten sich diese Szene mit offenem Mund an. Wenn sich die Regierungschefin eines Staates, der für uns ein sehr wichtiger Partner ist, so verhält, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Ich bin ihr sehr dankbar.

Die 88-jährige Ljudmila Alexejewa ist Historikerin, Menschenrechtlerin und ehemalige sowjetische Dissidentin. Sie war 1976 Gründungsmitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe. Ein Jahr später wurde sie gezwungen, die Sowjetunion zu verlassen. Von den USA aus setzte sie ihre Menschenrechtsarbeit fort. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte Alexejewa 1993 nach Russland zurück. Seit 1996 ist sie Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe.

Das Gespräch führte Alexander Prokopenko