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Politik

Mordfall Sürücü: Bis heute keine Reue

30. Mai 2017

Vor zwölf Jahren wurde die Deutschtürkin Hatun Sürücü in Berlin von ihrem Bruder erschossen. Der steht bis heute zum "Ehrenmord" an seiner Schwester. Ein Istanbuler Gericht sprach zwei Brüder des Täters jetzt frei.

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Deutschland Gedenken an Hatun Sürücü
Bild: picture alliance/dpa/L. Schulze

Hatun Sürücüs "Vergehen" bestand darin, dass sie gegen die kulturellen und moralischen Vorstellungen ihrer Familie aufbegehrte. Sie war die älteste Tochter kurdischer Eltern, die Anfang der 70er Jahre aus der Osttürkei nach Berlin gekommen waren. Als Hatun in die Pubertät kommt, lehnt sie sich immer mehr gegen die Familie auf. Der Vater nimmt sie von der Schule. Mit 16 wird sie mit einem Vetter in der Türkei zwangsverheiratet. Sie wird von ihm schwanger, trennt sich im Streit von ihm, kehrt nach Berlin zurück und zieht nach der Geburt ihres Sohnes in ein Heim für minderjährige Mütter. Das Kopftuch legt sie ab. Hatun holt einen Schulabschluss nach und macht eine Lehre als Elektroinstallateurin. Äußerlich steht einem halbwegs normalen Leben nichts im Wege.

Doch in den Augen ihrer Eltern und Brüder hat sie gegen so ziemlich alles verstoßen, was der Familie heilig ist. Dass Hatun einerseits an ihrem eigenständigen Leben festhält, andererseits aber weiter Kontakt zur Familie hält, wird ihr zum tödlichen Verhängnis. Am Abend des 7. Februar sucht ihr damals 20 Jahre alter Bruder Ayhan sie in ihrer Wohnung auf. Dort kommt es zum Streit. Anschließend, auf dem Weg zur Bushaltestelle, tötet er seine Schwester mit drei Kopfschüssen aus unmittelbarer Nähe.

Deutschland Urteil im Prozess um «Ehrenmord» an Schwester
Alpaslan Sürücü (r.), einer der beiden älteren Brüder, 2006 nach seinem Freispruch aus Mangel an BeweisenBild: picture-alliance/dpa/S. Kugler

"Falsches Verständnis von Toleranz"

Die Tat tritt in der Öffentlichkeit sofort eine emotionale Debatte über "Ehrenmorde" los, zumal sich in den Wochen zuvor ähnliche Todesfälle in Berlin gehäuft haben. Zusätzliche Sprengkraft bekommt der Mord an Hatun Sürücü, als drei Schüler der 8. Klasse einer Berliner Schule in einer Diskussion den Mord gutheißen. Es fallen Sätze wie "Die hat doch selbst Schuld. Die Hure lief rum wie eine Deutsche", worauf der Schulleiter in einem offenen Brief schreibt: "Diese Schüler zerstören den Frieden des Schullebens. Wir dulden keine Hetze gegen die Freiheit." Der damalige Bundespräsident Horst Köhler reagiert auf den Vorfall mit den Worten: "Ein falsches Verständnis von Toleranz, Harmoniestreben oder mangelnde Courage dürfen nicht dazu führen, dass grundlegende Regeln des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden."

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz und Sidar Demirdögen, damals Vorsitzende des Bundesverbands der Migrantinnen, warnen vor einer Pauschalverurteilung von Ausländern. Deligöz setzt statt schärferer Strafen auf "Kindergärten, möglichst früh und möglichst lange, Sprachkurse, in denen die Kinder auch Sozialverhalten lernen, und ein islamischer Religionsunterricht, der nicht unkontrolliert den islamischen Vereinen überlassen wird."

Freisprüche für die Brüder des Täters

Vor Gericht sagt Ayhan Sürücü später, er habe den westlichen Lebensstil seiner Schwester verachtet und die Ehre der Familie wiederherstellen wollen. Er wird im April 2006 zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Zwei mitangeklagte ältere Brüder, die im Verdacht stehen, Aydan zu dem Mord angestiftet und die Tatwaffe besorgt zu haben, werden wegen fehlender Beweise freigesprochen. Im August 2007 hebt der Bundesgerichtshof die Freisprüche auf. Trotzdem kommt es in Deutschland nicht zu einer Neuauflage des Prozesses, weil sich die beiden Brüder inzwischen in die Türkei abgesetzt haben.

Abdurrahim Vural
Abdurrahim Vural: "Leider wollte die türkische Staatsanwaltschaft damals nicht tätig werden"Bild: picture-alliance/dpa/B. Settnik

Türkische Justiz mauert zunächst

Es dauert noch einmal acht Jahre, bis die Türkei selbst Anklage wegen Beihilfe zum vorsätzlichen Ehrenmord gegen die beiden älteren Brüder Alpaslan und Mutlu Sürücü erhebt. Berlin hat unterdessen eine Vielzahl von Akten ins Türkische übersetzen lassen und den türkischen Justizbehörden übersandt. Dass die Klage überhaupt zustande kommt, ist nicht zuletzt dem Berliner Juristen Abdurrahim Vural zu verdanken. Im Interview mit der Deutschen Welle beklagt er im Januar dieses Jahres die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Türkei: "Die beiden Brüder waren seit Jahren international zur Fahndung ausgeschrieben. Was überhaupt nicht nachvollzogen werden kann, ist, dass sie bisher in der Türkei kein Prozess gemacht wurde. Anfang 2009 hatte ich bei der Generalstaatsanwaltschaft in der Türkei Strafanzeige gegen sie erstattet, auf die Rechts- und Beweislage in Deutschland hingewiesen und gefordert, dass den Brüdern in der Türkei der Prozess gemacht wird. Leider wollte damals die türkische Generalstaatsanwaltschaft nicht tätig werden."

Nach seiner Haft in Deutschland wird Aydan 2014 in die Türkei abgeschoben. Er sagt 2016 im Prozess gegen seine Brüder, er habe die Tat allein begangen. Als Motiv gibt er diesmal nicht den Abscheu über den Lebenswandel seiner Schwester an; er habe im Streit mit ihr die Fassung verloren. Reue hat Ayhan nach Angaben der Berliner Ausländerbehörde während seiner Haftzeit nicht gezeigt, im Gegenteil. In dem Dokumentarfilm "Verlorene Ehre – der Irrweg der Familie Sürücü" von Matthias Deiß und Joachim Goll rechtfertigt Aydan die Tat und meint, in jedem Kulturkreis gebe es Ehrenmorde. Aydan Sürücü hat 2015 auch die Attentatsopfer von Charlie Hebdo auf seiner Facebook-Seite verspottet.

Deutschland Grabstelle der Türkin Hatun Sürücü (picture-alliance/ dpa)
Grabstein von Hatun Sürücü auf dem islamischen Friedhof in Berlin-GatowBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Ehrenmorde nach wie vor ein großes Problem

Die Frauenrechtlerin Rukiye Leyla Süren betrachtet es bereits als einen Fortschritt, dass sich der Staatsanwalt im türkischen Prozess auf den "Brauch" als einen erschwerten Umstand der Tat bezogen hat. Die Einführung dieser Neuerung 2005 im türkischen Strafrecht sei das Ergebnis eines "sehr langen Kampfes der Frauenrechtlerinnen in der Türkei". Frauenmorde aus verletzten Ehrgefühlen sieht sie nach wie vor als großes Problem in der Türkei. Laut Filmemacher Goll werden nach einer statistischen Erhebung aus dem Jahr 2014 jede Woche dort durchschnittlich sechs Frauen von ihren Familien oder ihrem Ehemann getötet.

Der Berliner Jurist Abdurrahim Vural hat im Januar seine Hoffnung ausgedrückt, dass es "in Zukunft auf juristischer Ebene zwischen der Türkei und Deutschland eine bessere Zusammenarbeit geben sollte". Es solle "nicht der Eindruck bei den Menschen entstehen, dass man sich einfach durch Flucht seiner Strafe entziehen kann". Dies war jedoch vor den jüngsten Auseinandersetzungen um die türkische Verfassungsreform und um den Luftwaffenstützpunkt Incirlik, die die Beziehungen noch einmal zusätzlich belastet haben.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik