Lisa-Maria Kellermayr: der vermeidbare Tod
2. August 2022Tausende Menschen haben am Montag in Wien, Graz, Linz und anderen Städten in Österreich der verstorbenen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr gedacht. Die 36-jährige Medizinerin war am Wochenende tot in ihrer Arztpraxis in einer kleinen Gemeinde in Oberösterreich aufgefunden worden. Die Behörden gehen von Suizid aus.
Kellermayr war im ganzen Land bekannt geworden als ausgesprochene Befürworterin von Impfungen und anderen Maßnahmen gegen das Coronavirus. Und auch, weil sie damit den Hass von radikalen Gegnern der Corona-Politik und Corona-Leugnern auf sich zog. Über Monate war sie in sozialen Medien beschimpft worden. In Drohbriefen wurde mitunter detailliert beschrieben, wie man sie und ihre Mitarbeiter "abschlachten" wolle. Angebliche Patienten kamen in ihre Sprechstunde, um den Praxisbetrieb zu stören. All dies meldete Kellermayr der Polizei und suchte Hilfe bei der Ärztekammer - vergebens.
"Sie wurde nicht ernst genommen"
Obwohl zu den Absendern der Drohungen polizeibekannte gewaltbereite Rechtsradikale gehörten, spielte man die Morddrohungen herunter. Ermittler wiegelten ab, solche Personen seien nicht ausfindig zu machen. Eine Hacker-Aktivistin schaffte das nach eigenen Angaben allerdings binnen weniger Stunden, einen der Hetzer zu identifizieren. Eine Strafverfolgung lehnte die Polizei dennoch ab, weil der Mann in Deutschland lebt. Ein Polizeisprecher warf Kellermayr gar vor, sie wolle sich nur wichtigmachen.
"Sie wurde nicht ernst genommen", schreibt Florian Klenk, Chefredakteur der Wochenzeitschrift "Falter", in seiner Kolumne. "Die Behörde hat ihr nicht geholfen, sondern war vor allem damit beschäftigt, Kritik an der eigenen lustlosen Polizeiarbeit abzuwehren."
Da die Behörden es ablehnten, ihre Arztpraxis in Seewalchen am Attersee zu schützen, engagierte Kellermayr auf eigene Kosten einen bewaffneten Wachmann und trieb sich damit vermutlich in den finanziellen Ruin. Als sich Ende Juni endlich der Staatsschutz einschaltete, hatte die Ärztin ihre Praxis bereits geschlossen; die geplante Wiedereröffnung scheiterte, weil ihre Mitarbeitenden wohl vor der Drohkulisse kapituliert hatten.
Öffentliche Forderungen nach Aufarbeitung
Wie Klenk fordern nun zahlreiche Kommentatoren, dass der Fall transparent aufgearbeitet wird. Am Montagabend sagte die Social-Media-Expertin Ingrid Brodnig in einer TV-Talkshow im öffentlich-rechtlichen Österreichischen Rundfunk (ORF): "Es muss ganz genau geschaut werden: Was war die Rolle der Exekutive? Was war die Rolle der Justiz?"
Zum einen könne es nicht sein, dass die Polizei das Opfer kritisiert, statt es zu schützen, sagte Brodnig, zum anderen werfe der Fall die Frage auf, ob es Lücken in der Rechtslage oder bei der Rechtsdurchsetzung gebe.
"Gefährliche Drohung" ist strafbar
Ähnlich wie in Deutschland ist es auch in Österreich eine Straftat, einem Menschen zu drohen, "um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen", wie es in Paragraph 107, "Gefährliche Drohung", des Österreichischen Strafgesetzbuches heißt. Wer dies über einen längeren Zeitraum tut, kann mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren bestraft werden.
Hinzu kommt, dass "Gefährliche Drohung" ein sogenanntes Offizialdelikt ist: "Das bedeutet, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Kenntnis von einer gefährlichen Drohung - etwa bei einer Strafanzeige - von Amtswegen ermitteln müssen", schreibt der Wiener Strafverteidiger Zaid Rauf auf seiner Website.
Vom Staat im Stich gelassen?
Als besonders empörend beschreibt Colette M. Schmidt, Redakteurin der Wiener Tageszeitung "Der Standard", die Untätigkeit der österreichischen Polizei, denn schließlich sei die Verstorbene vom Staat nachgerade als Impfärztin angeworben worden: "Das war gar nicht so einfach in Oberösterreich, weil die Stimmung von Anfang an schwierig war", so Schmidt im Podcast "Thema des Tages". "Das heißt, hier hat Kellermayr der Republik geholfen und wurde dafür von den Impfgegnern massiv bedroht. Und dann bekommt sie aber gegen diese Bedrohungen keine Hilfe."
Wie "Falter"-Chefredakteur Krenz und andere Journalisten kannte Schmidt Kellermayr aus ihrer Berichterstattung persönlich. Über die Behörden urteilt sie: "Wenn man sich das Ende ansieht, muss man sagen, Polizei und Politik haben versagt."
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.