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Minderheit mit Verfassungsrang

Maja Bahtijarevic26. Dezember 2012

Es ist ein Landtagsbeschluss mit großer Signalwirkung: Schleswig-Holstein hat den Schutz der Sinti und Roma und ihrer Sprache und Kultur in die Landesverfassung aufgenommen - als erstes deutsches Bundesland überhaupt.

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Eine Frau und ein kleines Mädchen in der Siedlung "Maro Temm“ in Kiel Foto: Maja Bahtijarevic (DW)
Bild: Maja Bahtijarevic

Eine beschauliche Wohnsiedlung mit spielenden Kindern auf einer Wiese - das ist "Maro Temm", die Wohngenossenschaft der Sinti im Osten der norddeutschen Stadt Kiel. Übersetzt heißt die Siedlung "Unser Platz". Ein großer Mann mit freundlichem, faltengekerbten Gesicht läuft über die Straße. Es ist Matthäus Weiß, Landesvorsitzender der Sinti und Roma im Bundesland Schleswig-Holstein. "Hier geht es uns gut", sagt Weiß, der selbst Sinti ist.

Doch das war nicht immer so, bestätigt er: "Ich habe die Zeit noch mitgemacht, als man meine Familie und mich nirgendwo länger als zwei oder drei Tage geduldet hat und wir dann weiterziehen mussten." Und das, obwohl seine Familie seit 300 Jahren in Schleswig-Holstein lebt. Weiß ist in Kiel geboren und aufgewachsen, doch richtig dazugehörig hat er sich nie gefühlt. Das könnte sich aber ändern: Einstimmig haben die sechs Parteien im schleswig-holsteinischen Landtag diesen November Sinti und Roma als Minderheit in die Landesverfassung aufgenommen.

Matthäus Weiß, Landesvorsitzender der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein Foto: Maja Bahtijarevic (DW)
Matthäus Weiß: moralische WiedergutmachungBild: Maja Bahtijarevic

22 Jahre und sechs Anläufe waren nötig

Viele Jahre lang hat Matthäus Weiß für die Aufnahme seiner Gruppe in die Verfassung gekämpft. Zuletzt war ein Antrag vergangenes Jahr an der CDU-geführten schwarz-gelben Koalition gescheitert. Die Begründung der Christdemokraten in Kiel: Sinti und Roma seien keine landestypische Minderheit. "Wenn man sechs Mal anlaufen muss und es 22 Jahre dauert, um in die Verfassung zu kommen, dann verzweifelt man tatsächlich nicht nur an den Politikern, sondern auch an der Menschheit", sagt Weiß. Die Entscheidung im November (14.11.2012), Roma und Sinti Verfassungsrang zu geben, lässt seine Augen aufleuchten: "Das war eigentlich immer unser Ziel und in erster Linie ist es eine moralische Wiedergutmachung, die wir erfahren haben."

Auch die CDU hat sich zuletzt nicht mehr gesperrt. Die konservative Partei, die seit der letzen Wahl auf den Oppositionsbänken sitzt, hatte im Laufe der Zeit die Roma und Sinti als landestypisch akzeptiert und die Notwendigkeit der Änderung des Minderheitenartikels erkannt. Dementsprechend wurde der Artikel 5 der Landesverfassung erweitert: Neben der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, haben jetzt auch Roma und Sinti in Schleswig-Holstein Anspruch auf Schutz und Förderung. Die damit verbundenen Minderheitenrechte beinhalten hauptsächlich den Erhalt der Kultur und Sprache einer Volksgruppe.

Landtag von Schleswig-Holsteinisch Foto: Carsten Rehder: (dpa)
Landtag von Schleswig-Holsteinisch: Verfassung einstimmig geändertBild: picture-alliance/dpa

So haben die Dänen in Schleswig-Holstein beispielsweise eigene Schulen und auch ein Minderheitenwahlrecht. In Nordfriesland, also an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, wo die Friesen leben, sind zudem Orts- und Bahnhofsschilder zweisprachig. Laut Matthäus Weiß müssen sich die Sinti und Roma erst einmal organisieren und sehen, was der neue Beschluss für sie bedeutet. Eine eigene Schule fordern sie allerdings nicht. "Wir möchten unsere Kinder ja nicht isolieren", so Weiß. Aber erst im nächsten Jahr wird es zu ersten Programmen kommen.

Schutz und Förderung durch die Verfassung garantiert

Obwohl die Verfassungsänderung keine konkreten Folgen hat, bestätigt der Zentralratsvorsitzende der deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, die Symbolwirkung des Beschlusses. Er setze ein wichtiges Zeichen für die Zukunft der Minderheit, so Rose: "Hier wird der Minderheit Schutz und Förderung über die Verfassung zugesichert. Ich denke, dass das ein Signal ist, nicht nur im Inneren unseres Landes, sondern es ist auch ein Signal für die Europäische Union, wo die Situation der Minderheit in vielen Ländern besorgniserregend ist." So sind Roma und Sinti beispielsweise aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland gezogen, weil sie in ihrer Heimat stark diskriminiert wurden. In Ungarn marschieren immer wieder Anhänger der rechtsextremen Jobbik-Partei auf, um gegen Roma zu demonstrieren und antiziganistische Parolen zu verbreiten.

Siedlung "Maro Temm“ in Kiel Foto: Maja Bahtijarevic (DW)
Siedlung "Maro Temm": Ende der AusgrenzungBild: Maja Bahtijarevic

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig sieht die Verfassungsänderung ebenso als ersten Schritt in die richtige Richtung: "Wir müssen die Grenzen abbauen, die es immer noch gibt, wenn man über Minderheitenpolitik redet. Es ist wichtig, dass man deutlich macht, dass Mehrheit und Minderheit zusammen an diesem Land arbeiten." Schleswig-Holstein nimmt mit dem Beschluss eine Vorreiterrolle ein: Es ist das erste Bundesland, das die Volksgruppen der Sinti und Roma in einen Minderheitenschutz-Artikel aufgenommen hat.

"Es ist ein sehr, sehr großer Tag für uns"

Matthäus Weiß ist stolz auf die Siedlung "Maro Temm", die es seit fünf Jahren gibt. Wie der Blick auf die Grundstückseinfahrten zeigt, scheinen alle Roma und Sinti hier einen Wohnwagen zu besitzen. Die Klischees vom "fahrenden Volk", mit dem keiner etwas zu tun haben wollte, würden aber nicht stimmen, sagt Anna Weiß, die Frau von Matthäus Weiß: "Sesshaft waren wir schon immer. Die Arbeit hat uns aber immer von einem Ort zum anderen geführt und wir wurden immer nach kurzer Zeit vertrieben, weil die Sinti und Roma einen schlechten Ruf haben."

Die Freude über den Verfassungsbeschluss lassen die 5000 Sinti und Roma aus Schleswig-Holstein dennoch große Hoffnung schöpfen. "Es ist ein sehr, sehr großer Tag für uns. Ich denke, jetzt hat die Ausgrenzung ein Ende gefunden", wünscht sich Weiß. "Bis sich die Änderung in Artikel 5 bemerkbar macht, wird es noch dauern. Aber unsere Kinder und Enkelkinder werden auf der Verfassung aufbauen können", meint er und geht zu dem siedlungseigenen Spielplatz. "Die Kinder sagen, das ist ihre Siedlung, und hier fühlen sie sich wohl."