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Politik

Menschenrechtsberichte rügen Politik

Gilda-Nancy Horvath
25. November 2022

"Roma in Europa haben eine zehn Jahre geringere Lebenserwartung und eine höhere Kindersterblichkeit als Nicht-Roma" - so das Fazit eines aktuellen Menschenrechtsberichts, in dem die Politik zum Handeln aufgerufen wird.

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Berlin: Demonstration gegen Diskriminierung der Sinti und Roma
Berlin: Demonstration gegen Diskriminierung der Sinti und RomaBild: Christian Ditsch/imago

Roma und Sinti sind die größte Minderheit in Europa - und die am schlechtesten gestellte. Das belegt auch ein neuer Bericht, der die Lage von Roma-Communities in Europa umfassend dokumentiert. Veröffentlicht wurde dieser Bericht vom Netzwerk ERGO (European Roma Grassroots Organisation), vorgestellt hat ihn jüngst die schwedische Politikerin Soraya Post. Die prominente Roma-Aktivistin saß von 2014 bis 2019 im Europäischen Parlament und ist Vorstandsmitglied des Netzwerks, das Roma-Organisationen aus über 30 Ländern vereint. Der aktuelle ERGO-Bericht belegt unter anderem eine signifikante Ungleichbehandlung von Roma im Bereich des Gesundheitswesens. So hätten 22 Prozent der Menschen aus der Roma-Community chronische Krankheiten, jede vierte Person verfüge über keine Krankenversicherung. Die Daten stammen aus nationalen Studien und bestätigen einen erschwerten Zugang der Roma zu gesundheitlicher Versorgung in mehreren EU-Ländern. 

London: Drive to survive
London: Drive to Survive - Protestaktion der Roma-Community gegen Diskriminierung (Juli 2021)Bild: WIktor Szymanowicz/NurPhoto/picture alliance

Diese Zahlen zeigten, so Post, dass sich seit dem Beschluss des neuen EU-Rahmens für die politische Partizipation der Roma aus dem Jahr 2020 die Situation nicht verbessert habe. Im Gegenteil, angetrieben von der Covid-19-Pandemie könne man von einer Verschlechterung sprechen. Und das trotz des dringenden Appells der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des strategischen Rahmens für die Roma in der EU: "Wo ist das Wesen der Menschheit, wenn die Roma tagtäglich aus der Gesellschaft ausgeschlossen und unterdrückt werden?"

Bis Ende 2022 sollen die EU-Mitgliedsstaaten von den Fortschritten bei der Umsetzung des EU-Rahmens in ihren Ländern in den Bereichen Gesundheit, Wohnen, Bildung und politische Partizipation berichten. Mit geschätzt über 12 Millionen Menschen stellen Sinti und Roma die größte Minderheit in Europa dar. 

Roma als Motor für die Ökonomie der Balkanregion? 

Bereits Anfang November hatte Sonja Licht, Präsidentin des "Belgrade Fund for Political Excellence", in Berlin bei einer Veranstaltung der Südosteuropa Gesellschaft und des Aspen Instituts Germany auf das von der Politik oftmals ignorierte Potenzial der Roma hingewiesen: "Roma sind eine wachsende demographische und ökonomische Kraft in der EU und in der Balkanregion. Sie sind ein Motor für die ökonomische Entwicklung. Wenn wir das ignorieren, wird die gesamte Region die Peripherie der Peripherie bleiben."

Berlin | Civil Society Forum | SOG und Aspen Institute Germany
Civil Society Forum - Berlin, 1.11.2022: Gilda-Nancy Horvath (DW, Moderation), Aleksandra Bojadijeva (Regionaler Kooperationsrat - RCC), Adriatik Hasantari (Albanien), Dejan Markovic (Serbien)Bild: SOG/Südosteuropa Gesellschaft

"Amplifying Roma Voices in Policy Making" war ein Themenkomplex der Veranstaltung mit Fokus auf die Situation in den Staaten des Westbalkans. Was sich dort im Kontext der Roma-Communities widerspiegelt, seien in Wirklichkeit Indikatoren für die Funktionalität staatlicher Systeme und sollte daher eine wichtige Rolle in politischen Prozessen spielen, erklärte Elvis Memeti, Vertreter des Nationalen Roma-Kontaktpunkts in der Regierung Nordmazedoniens: "Die Lücke zwischen Roma und Nicht-Roma in Bezug auf die vorherrschenden Lebensbedingungen, die mangelnde Infrastruktur, die Bildung und den Zugang zu öffentlichen Gütern wird immer größer. Dennoch gibt es großes Potenzial für die Organisation politischer Arbeit und Partizipation von Roma."

Dieses Ungleichgewicht im System thematisiert auch Adriatik Hasantari von der Organisation Roma Active Albania in Tirana. Davon am härtesten betroffen seien die Schwächsten in der Gesellschaft. Rassismus und Antiziganismus seien weiterhin im System verankert und wirkten stark und über Generationen hinweg - unabhängig von der politischen Ausrichtung: "Stellen Sie sich ein Kind vor, das bereits im Alter von fünf Jahren mehrmals aus seinem Heim vertrieben wurde. Wie soll diese Person Vertrauen in das System aufbauen?", so Hasantari.

Es reiche daher nicht, dass Roma nur "gehört" würden. Auch die Teilhabe an politischen Prozessen sei nur ein erster Schritt, über den man weit hinaus gehen müsse: "Die Politik sollte die Expertise aus der Roma-Community von der Peripherie in das Zentrum politischer Entscheidungsprozesse rücken. Dabei sollten regionale Kooperationen im Fokus stehen, um die größtmögliche Wirkung und Nachhaltigkeit zu erzielen."

Rumänien | Roma-Ghetto
Roma-Kolonie "Pata Rât" neben Cluj/Klausenburg, RumänienBild: Cristian Ștefănescu/DW

All dies sei jedoch noch eine Utopie angesichts der aktuellen Situation der Roma in der Region und in der EU, auf die Dejan Markovic (Serbisches Roma-Forum, Belgrad) auf Basis von Zahlen des aktuellen Berichts der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) verwies: "Immer noch lebt mehr als die Hälfte der Roma-Bevölkerung ohne Zugang zu adäquaten Wohnmöglichkeiten und Wasserversorgung, rund ein Drittel der Kinder leidet Hunger. Der Grund für die weiterhin instabile Situation der Roma ist der mangelnde politische Wille, tatsächlich etwas zu verändern. Dies ist die Ursache dafür, dass Antiziganismus immer noch existiert", so Markovic. 

"Keine Politik ohne unsere Beteiligung"

Aleksandra Bojadijeva (Regionaler Kooperationsrat - RCC) weist darauf hin, dass bisher nur die Symptome bekämpft wurden - und nicht die Ursache: "Es ist wirklich an der Zeit, die Auswirkungen von Antiziganismus abzubauen, denn dieser ist die Wurzel aller negativen Dinge, die den Roma in den vergangenen Jahrhunderten widerfahren sind. Daher ist es nicht genug zu sagen, dass alle gleich behandelt würden, wenn nicht alle aus der gleichen Position starten. Die Roma brauchen Chancengleichheit." 

Dies sei trotz des neuen EU-Rahmens für die Gleichheit, Partizipation und Teilhabe der Roma bisher noch keine Realität - im Gegenteil. Immer noch würden kaum Personen aus der Roma-Community in politischen Funktionen oder in der staatlichen Verwaltung arbeiten - trotz klarer Vorgaben durch die Politik. Der einzige Weg, die Qualität politischer Beschlüsse zu erhöhen, sei daher, Roma in allen politischen Bereichen miteinzubeziehen: "Es sollte nichts über uns, nichts ohne uns besprochen und entschieden werden, und darüber hinaus sollten wir Roma an allen politischen Entscheidungsprozessen teilhaben."

Bei der Evaluierung durch die EU-Kommission im Frühjahr 2023 wird sich zeigen, ob und wie die EU-Mitgliedsstaaten ihre politische Verantwortung tatsächlich wahrnehmen.