„Meine Kindheit war Angst“: Erinnerungen an die Pogromnacht
Die Reichspogromnacht gehört zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte. Juden wurden gejagt, ihre Geschäfte zerstört, Synagogen in Brand gesetzt. Das alles erlebte Mirjam Pollin als Kind in Hamburg.
Es ist ein grauer Novembertag, der 9. November 1938, als sich Mirjam Pollin, die damals noch Thea Kurzbarth heißt, auf den Weg zur Schule macht. Die 13-Jährige lebt mit ihrer Mutter Else im Hamburger Grindelviertel – wegen der vielen jüdischen Bewohner auch Klein-Jerusalem genannt. Es ist viel los auf der Straße, vor allem rund um die Synagoge Synagoge, -n (f.) das Gebäude, in dem Juden gemeinsam beten am Bornplatz. Menschen johlen johlen aus Freude über etwas laut und unangenehm schreien , Thea hört Glas, das zu Bruch geht. Sie versteht nicht, was passiert:
„Und da hab ich geguckt auf die Synagoge, und alles war so komisch, so viele Menschen. Da bin ich nach Haus gegangen, hab meiner Mutter gesagt: ‚Es ist keine Schule‘. Und die hat gar nicht viel gefragt. Die hat gesagt: ‚Geh und kauf Brot.‘ Und ich bin ins Brotgeschäft gegangen, [das] war voller Menschen. Und als ich dran war, sagt die Frau: ‚Juden verkauf ich kein Brot.‘ Keiner hat was gesagt. Und ich bin mit rotem Kopf und nassen Hosen rausgegangen aus dem Laden.“
Im Brotgeschäft erlebt Thea eine feindliche Stimmung. Beschämt, mit rotem Kopf, verlässt sie voller Angst und ohne Brot den Laden. Seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler im Jahr 1933 haben Thea und ihre Familie viel mitgemacht: Der Vater wird schon im ersten Hitler-Jahr vorübergehend verhaftet. Er ist doppelt verdächtig, weil er Jude und Kommunist ist. Eines Nachts durchsuchen Männer in Ledermänteln die Wohnung der Kurzbarths in der Dillstraße. Dennoch lässt sich die Mutter nicht den Mund verbieten jemandem den Mund verbieten jemandem verbieten, dass er seine Meinung sagt – auch nicht, als am 9. November in Hamburg die Synagogen brennen:
„Und wir sind zur großen Synagoge gegangen, und die Leute haben gelacht. Und meine Mutter hat immer gesagt ‚Diese Banditen! Diese Verbrecher!‘ Und ich hab gesagt: ‚Mutti, Mutti, bitte sei still, bitte sei still!‘ Und als ich nach Hause kam, hab ich den ganzen Tag am Fenster gestanden. Wir wohnten direkt gegenüber der Talmud Tora Schule, der Jungsschule. Die Väter, die kamen ihre Kinder holen, wurden sofort verhaftet. Die Mütter, die wurden lachend weggeschickt. Und bis zum späten Nachmittag wurden die Kinder in der Schule gehalten. Ich hab die Synagoge gesehen. Ich hab gesehen, wie ein Lehrer mit seinen Schülern kam und den Schülern zeigte, wie man die Fenster einschlägt. Und die Kinder nahmen die Steine und schlugen die Fenster ein.“
Thea und ihre Mutter wohnen direkt gegenüber der Talmud Tora Realschule im Hamburger Grindelviertel, einer jüdischen Schule nur für Jungen. Die 13-Jährige beobachtet das Grauen Grauen, - (n.) der Schrecken; auch: ein sehr schlimmes Erlebnis , das sich dort abspielt. Bereits im September 1935 ist mit dem sogenannten Reichsbürgergesetz die Grundlage zum Vorgehen gegen Juden gelegt worden. Die Bevölkerung wird eingeteilt in Bürger „deutschen und artverwandten Blutes“ und „einfache, minderwertig anzusehende“ Bürger. Jüdische Rechtsanwälte verlieren ihre Zulassung Zulassung, -en (f.) hier: die offizielle Erlaubnis, etwas tun zu können , Beamte werden ohne Ruhegehalt pensioniert, öffentliche Ämter sind für Juden verboten. Überall herrscht eine feindselige Stimmung, sagt Mirjam Pollin:
„Die Nachbarn haben uns ignoriert. Wir wurden angepöbelt. Meine Mutter hat mir immer gesagt, wenn ich auf der Straße bin, dann soll ich immer den Blick nach unten wenden: Die Leute brauchen meine dunklen Augen nicht sehen. Es kann mir heute keiner sagen von der damaligen Generation, dass sie nichts gewusst hätten. Denn die Reden von Hitler und Goebbels, die wurden mit Lautsprechern übertragen in den Straßen. Es gab die Schilder an den Geschäften: ‚Juden werden nicht bedient‘. Es gab die Schilder in den Dörfern: ‚Unser Dorf ist judenfrei!‘ All das, das haben die Leute gesehen.“
Manche Menschen, mit mit jemanden Tür an Tür wohnen Nachbarn sein denen die Familie Tür an Tür wohnt mit jemanden Tür an Tür wohnen Nachbarn sein , ignorieren sie plötzlich, tun so, als ob sie sie nicht kennen. Andere beleidigen sie offen, pöbeln sie an. Angeheizt die Stimmung an|heizen hier umgangssprachlich für: dafür sorgen, dass ein Verhalten immer schlimmer wird wurde die feindselige Stimmung die Stimmung an|heizen hier umgangssprachlich für: dafür sorgen, dass ein Verhalten immer schlimmer wird noch durch den Propagandaapparat Propagandaapparat (m., nur Singular) ein System (in Staaten mit einer Alleinherrschaft), in dem durch Aktionen die Meinungen und Gedanken der Öffentlichkeit verändert werden sollen der Nazis, geführt von Joseph Goebbels, einem der engsten Vertrauten Hitlers. Ab dem 9. November und der darauffolgenden Nacht brennen landesweit nicht nur Synagogen und Gebetsstuben, auch Geschäfte werden geplündert. Hunderte Menschen werden ermordet oder in den Selbstmord getrieben, mehr als 30.000 männliche Juden werden verhaftet, sehr viele in Konzentrationslager, KZ, gebracht. Die Nacht vom 9. auf den 10. November, die sogenannte Reichspogromnacht, ist der Auftakt zum größten Völkermord in Europa. Mirjam Pollins Kindheit, so erinnert sie sich, wird nur durch ein Gefühl beherrscht:
„Meine Kindheit in Hamburg war Angst. Und besonders nach der Pogromnacht, als alle jüdischen Männer verhaftet waren. Und als die Männer dann aus dem KZ zurückkamen: Sie durften nicht erzählen, aber sie haben doch erzählt. Und die geschorenen Köpfe und die abgemagerten Gesichter und die ängstlichen Augen, das werd’ ich nie vergessen.“
Gefangene werden so lange schikaniert jemanden schikanieren jemandem durch bestimmte Maßnahmen Schwierigkeiten bereiten; quälen , bis sie einwilligen, Deutschland zu verlassen. Viele Länder aber verweigern Juden die Einreise. Theas Vater flieht mit seiner zweiten Frau nach England, die Schwester nach Amerika, der Bruder nach Palästina. Nur mit Glück bekommt Thea einen der letzten Plätze auf einem Zugtransport für Kinder von Hamburg nach Schweden. Eigentlich hätte sie sich nicht mehr von ihrer Mutter verabschieden dürfen. Doch es kam anders:
„Die Eltern durften nicht mit auf den Bahnsteig gehen. Man sollte nicht weinen. Und wir waren im Zug und dann hörte ich den Familienpfiff von meiner Mutter, und sie war auf einem Nebenperron und sie weinte, und ich konnte gar nicht verstehen, warum sie weint. Denn ich hatte das Gefühl, ich fahr auf einen Ausflug. Ich komm ja wieder.“
Es ist das letzte Mal, dass sich Thea und ihre Mutter sehen. Immerhin können sie sich doch verabschieden: Theas Mutter steht auf einem anderen Bahnsteig, Perron, und macht durch den nur ihrer Familie vertrauten Pfiff, einen hohen und kurzen Ton, auf sich aufmerksam. In Schweden gibt Thea den deutschen Namen auf und nennt sich Mirjam. Sie arbeitet bei einer Familie, irgendwann kommt die letzte Nachricht ihrer Mutter:
„Meine Mutter hat geschrieben darüber, dass die Leute verschickt werden und dass sie auch damit rechnet, verschickt zu werden. Die Leute werden nach dem Osten verschickt. Ich war so verzweifelt. Ich hab dann einen Brief bekommen, dass sie im Begriff ist zu fahren und dass ich lange nichts von ihr hören werde und dass ich mit meinen Geschwistern in Kontakt bleiben muss. Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Und das war’s.“
Vom Grindelviertel in Hamburg wird Else Kurzbarth nach Minsk in Weißrussland deportiert, in den Osten verschickt. Wie Mirjam Pollins Mutter stirbt, ist ungeklärt. Heute erinnert ein Stolperstein Stolperstein, -e (m.) hier: ein Kunstprojekt, bei dem Steine vor den Häusern der früheren Bewohner im Boden verlegt werden und an das Schicksal von Menschen erinnern sollen, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Hamburger Dillstraße 1 an sie. Als der Stolperstein verlegt wurde, reiste Mirjam Pollin extra aus Israel nach Hamburg, ein paar Jahr später wieder. Doch die Gefühle unterschieden sich:
„Ich hatte ein Gefühl, das ist der einzige Platz, wo meine Mutter mit Namen genannt wird. Und das war blank und schön. Und dann bin ich nach einigen Jahren wieder da gewesen. Und er war so schwarz. Man konnte ihn kaum unterscheiden von den anderen Steinen. Und das hat mich sehr, sehr traurig gemacht, denn die Leute gehen drüber hinweg, sie treten drauf. Und ich hatte das Gefühl, meine Mutter wird wieder getreten.“
„Meine Kindheit war Angst“: Erinnerungen an die Pogromnacht
Synagoge, -n (f.) — das Gebäude, in dem Juden gemeinsam beten
johlen — aus Freude über etwas laut und unangenehm schreien
jemandem den Mund verbieten — jemandem verbieten, dass er seine Meinung sagt
Grauen, - (n.) — der Schrecken; auch: ein sehr schlimmes Erlebnis
Zulassung, -en (f.) — hier: die offizielle Erlaubnis, etwas tun zu können
mit jemanden Tür an Tür wohnen — Nachbarn sein
die Stimmung an|heizen — hier umgangssprachlich für: dafür sorgen, dass ein Verhalten immer schlimmer wird
Propagandaapparat (m., nur Singular) — ein System (in Staaten mit einer Alleinherrschaft), in dem durch Aktionen die Meinungen und Gedanken der Öffentlichkeit verändert werden sollen
jemanden schikanieren — jemandem durch bestimmte Maßnahmen Schwierigkeiten bereiten; quälen
Stolperstein, -e (m.) — hier: ein Kunstprojekt, bei dem Steine vor den Häusern der früheren Bewohner im Boden verlegt werden und an das Schicksal von Menschen erinnern sollen, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden