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Literatur

Marlen Haushofer: "Die Wand" 

Aygül Cizmecioglu spe
6. Oktober 2018

Was bleibt von einem Menschen, der in vollkommener Isolation lebt – eingesperrt in der wilden Natur? Mit dieser kühnen Grundidee beschrieb Marlen Haushofer die existenzielle Einsamkeit des modernen Menschen.  

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Szene aus dem Film Die Wand (c)Studio Canal Germany)
Bild: Studio Canal Germany

Es gibt keinen Weg auf die andere Seite! Kein Klopfen, kein Schlagen hilft. Eine namenlose Frau sitzt fest in den Alpen – mutterseelenallein, nur auf sich gestellt. Die einzigen Lebewesen neben ihr: ein Hund, eine Kuh, und eine Katze. 

Alpiner Albtraum

Eine durchsichtige, aber undurchdringliche Wand trennt sie vom Rest der Welt. Dahinter scheint alles Leben in Todesstarre gefallen zu sein. Ist sie die einzige Überlebende einer Katastrophe?

"Wenn es dort draußen noch Menschen gäbe, hätten sie längst das Gebiet mit Flugzeugen überflogen. Ich habe gesehen, dass auch niedrighängende Wolken die Grenze überfliegen können […] Wo bleiben die Erkundungsflugzeuge der Sieger? Gibt es keine Sieger?"

"Die Wand" von Marlen Haushofer

Die Szenerie wird zum surrealen Albtraum vor sattgrüner Kulisse, das alpine Idyll zum gigantischen Gefängnis. Irgendwann merkt die namenlose Frau, dass ihr Hadern nur in die Verzweiflung führt. Sie findet sich mit der totalen Isolation ab und fängt an, ihr Überleben zu organisieren. Sie geht auf die Jagd, beginnt Tiere zu töten, um nicht zu verhungern. 

Ihr Dasein ist auf das Nötigste reduziert, sie lebt auf archaische Weise. Allein das Aufschreiben des Erlebten scheint von ihrem alten Leben noch geblieben zu sein. Doch sie schreibt nicht wie einst aus Freude, sondern lediglich um den Verstand nicht zu verlieren. Mit der Zeit aber reflektiert sie dabei immer intensiver ihre bisherige Existenz.   

Porträt Marlen Haushofer
Die Österreicherin war zu Lebzeiten kaum bekannt. Bild: picture-alliance/Imagno/ÖNB

"Während des langen Rückwegs dachte ich über mein früheres Leben nach und fand es in jeder Hinsicht ungeeignet. Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt."

Radikale Emanzipation?

Marlen Haushofers Parabel auf die Einsamkeit erschien 1963. Aber das Buch wurde erst in den Achtzigerjahren populär, und die Verkaufszahlen stiegen mit einem Mal rasant an. Die Frauenbewegung sah in dem Roman den Entwurf einer radikalen Emanzipation. Die Friedensbewegung wiederum erkannte in Haushofers Buch das Szenario einer postnuklearen Apokalypse. Unterschiedlichste Lesarten und Vereinnahmungen – Haushofers glasklar-nüchterne Sprache und der ereignisarme Plot schienen dazu einzuladen. 

Regisseur Julian Roman Pölsler zusammen mit seiner Hauptdarstellerin Martina Gedeck beim Dreh des Films "Die Wand"
Regisseur Julian Roman Pölsler zusammen mit seiner Hauptdarstellerin Martina Gedeck beim Dreh. Die Verfilmung von 2012 verschaffte dem Roman erneut große Aufmerksamkeit. Bild: Studio Canal Germany

"Die Wand" setzt komplett auf die innere Spannung der Protagonistin. Erst durch diese Reduktion bekommt die Geschichte ihre Intensität, wird das Gefühl des Eingeschlossenseins beim Lesen fast greifbar. In einer Zeit, in der das Leben im Eiltempo rast, wirkt Haushofers Buch wie ein Exerzitium der Stille. Als hätte jemand einfach mal auf die Stopptaste gedrückt.  


Marlen Haushofer: "Die Wand" (1963), List Verlag

Marie Helene Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. Sie arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Sprechstundenhilfe in der Zahnarztpraxis ihres Mannes, veröffentlichte aber auch schon ab 1946 Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften. Ihren ersten Erfolg als Schriftstellerin hatte sie 1952 mit der Novelle "Das fünfte Jahr". Sie starb 1970 in Wien an Knochenkrebs.