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Marc Minkowski - Entdecker beim Geschirrspülen

5. Juli 2005

Mit seiner neuen CD „Une Symphonie Imaginaire“ taucht der Dirigent Marc Minkowski in die Welt barocker Sinnlichkeit. Kerstin Schüssler-Bach traf ihn in Essen.

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Quelle: Lillian Birnbaum / DGBild: Lillian Birnbaum / DG

In den 1990er Jahren als Shootingstar der Alte-Musik-Szene gefeiert, ist der frische Franzose wie einige seiner Kollegen mittlerweile im 19. Jahrhundert angekommen. Mit seinen Offenbach-Interpretationen, unterstützt von Primadonnen wie Anne-Sofie von Otter oder Felicity Lott, fegte er ordentlich Staub aus den Operetten-Ecken. Und schon drohte wieder das nächste Klischee: „Bitte keine Etikettierung als Barock- oder Operettenspezialist! Das sind zwei Genres, die ich liebe und ganz gut mache, aber ich kämpfe gegen dieses Schubladendenken. Glücklicherweise gibt es einige Leute, die mir vertrauen und mir Freiheiten geben, auch wenn ich Fehler mache. Und das Publikum folgt meinen Schritten – das ist das Wichtigste!“

Den Funken auf seine Hörer überspringen zu lassen gelingt der dirigierenden Charmeoffensive sehr schnell. Minkowski zelebriert am Pult keine Messe, sondern hat offensichtlich Spaß an seinem gestenreichen Tun. „Ich versuche aber mit zunehmendem Alter, meine Energie nach innen zu wenden. Der Dirigent ist in meinen Augen ein Medium zwischen Partitur, Orchester und Publikum.“ Dabei verzichtet er gerne auf den Blick in die Noten: „Wenn man eine Partitur vor sich hat, gibt es sofort eine Barriere. Das Auswendiglernen eines Stücks braucht zwar Zeit, aber mir hilft es, näher beim Orchester zu sein. Außerdem überträgt man den Musikern damit größere Verantwortung.“ Wieder eine Frage des Vertrauens – doch hat die Teambildung für ihn auch Grenzen? „Ich bin nicht autoritär und sauge wie ein Schwamm alles auf, was die Musiker mir anbieten. Aber ich erwarte auch von allen Orchestermitgliedern ihre Unterstützung. Und sie müssen unbedingt die innere Hierarchie akzeptieren.“ Als einstiger Fagottist im Orchester kennt er sich mit den mentalen Besonderheiten eines Kollektivs gut aus.

Der gebürtige Pariser hat neuerdings Gelegenheit, sein Rezept auch in Deutschland anzuwenden. Als Gast leitet er hiesige Klangkörper wie die Berliner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Dresdner Staatskapelle oder die Essener Philharmoniker. Dabei präsentiert er Trouvaillen von Offenbach bis Lili Boulanger, gerne aber auch das deutsche Kernrepertoire: Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn. Mit aufgekrempelten Ärmeln stürzt er sich ins Neuland – Mendelssohns Reformationssinfonie etwa entdeckte er für sich, als er beim Geschirrspülen das Radio einschaltete. „Da gibt es noch viel, was ich ausprobieren möchte. Ich würde sehr gerne sinfonische Zyklen bringen. Ein erster Schritt wird ein ziemlich verrücktes Konzertprojekt mit meinem Orchester, den Musiciens du Louvre: alle zwölf Londoner Sinfonien von Haydn an vier Tagen!“ Natürlich mit alten Instrumenten, doch bei dieser Frage lässt er sich nicht zum Aushängeschild des „historisch informierten Musizierens“ abstempeln: „Da bin ich nicht dogmatisch. Der junge Mozart bis einschließlich ‚Idomeneo‘ sollte auf alten Instrumenten gespielt werden. Danach hängt es von der Intelligenz und Flexibilität der Musiker ab. Das Chamber Orchestra of Europe klingt auch auf modernem Instrumentarium himmlisch! Mit den Musiciens du Louvre habe ich bisher Mozart-Opern wie ‚Die Entführung aus dem Serail‘ oder ‚Die Zauberflöte‘ mit mehr oder weniger modernen Instrumenten aufgeführt. Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen machen wir aber ‚Mitridate‘ mit echten Barockinstrumenten, ebenso die Sinfonien Nr. 40 und 41 für eine CD zum Mozart-Jahr.“

Wie man mit entsprechendem Equipment die Patina von einem Werk wischen kann, hat Minkowski selbst als Zuhörer erlebt: „Als Gardiner in Paris ‚Les Troyens‘ von Berlioz dirigiert hat, war das wie ein Schock für mich. Es klang einfach wundervoll mit den alten Instrumenten!“ Minkowskis eigener, vielfach ausgezeichneter Einspielung von Berlioz’ „Symphonie fantastique“ gelingt ein ähnliches Erweckungserlebnis: So markerschütternd ächzt die Posaune im „Marche au supplice“ ihr Fortissimo heraus, dass dem Delinquenten das Blut in den Adern gefriert. „Um diesen tiefen Ton in der vorgegebenen Lautstärke zu erreichen, muss man ins Instrument schreien. Mit einer modernen Posaune geht das viel leichter, aber es klingt auch nicht so brutal. In diesem Kontext hier ist der hässliche aber der richtige Klang!“

Wie genau studiert der „Officier des Arts et des Lettres“ und „Chevalier du Mérite“ für seine Entdeckungsreisen die Autographen? „Ich bin in erster Linie Interpret. Aber ich arbeite mit renommierten Musikwissenschaftlern zusammen, und ihnen vertraue ich.“ Das beruht auf Gegenseitigkeit: Der „Offenbach-Papst“ Jean-Christophe Keck legt seine Ausgrabungen bevorzugt in Minkowskis Hände. Und dieser freut sich, Kuriositäten wie die fast 150 Jahre verschollene Originalfassung von Offenbachs „Concerto militaire“ einem staunenden Publikum zu präsentieren.

Auch im französischen Repertorie gibt es noch viele unbestellte Felder. Als Appetithäppchen servierte Minkowskis Album mit Magdalena Kozená bereits Arien aus Aubers „Le Domino noir“ und Boiëldieus „La Dame blanche“ – Stücke, die auch in Deutschland einmal sehr beliebt waren, aber jetzt aus den Spielplänen verschwunden sind. „Ich bin sicher, dass diese Opern wiederkommen. Sie sind so unterhaltsam! Es gibt ein Publikum dafür! Ich träume davon, später einmal als Intendant eines Theaters oder Festivals Komponisten wie Auber, Meyerbeer und Halévy aufs Programm zu setzen.“

Auf der CD singt Magdalena Kozená auch Ebolis Schleierlied – würde ihn die komplette französische „Don Carlos“-Version reizen? „Ja, absolut“, gesteht Minkowski. „Aber auch das deutsche romantische Repertoire – Wagner mit lyrischen Stimmen. Die Urfassung des ‚Fliegenden Holländers‘ habe ich schon vor Jahren dirigiert. Ein Nahziel im Bereich Oper ist allerdings die Vollendung meines Gluck-Zyklus. ‚Orphée et Eurydice‘, ‚Iphigénie en Tauride‘ und ‚Armide‘ sind schon erschienen – jetzt fehlt nur noch ‚Alceste‘. Das will ich unbedingt machen!“

Vorerst feilt das sanfte Temperamentsbündel allerdings an seiner sinfonischen Karriere. Und dabei stellt er eine große Diskrepanz zwischen seinem aktuellen Konzertrepertoire und seiner CD-Präsenz fest. „Im Konzertsaal dirigiere ich mittlerweile sehr viel Chausson, Debussy, Fauré, nächstes Jahr endlich mit Rimsky-Korssakoff auch russische Musik.“ Ist es da nicht ein Anachronismus, dass er mit seiner Neuerscheinung „Rameau – Une symphonie imaginaire“ wieder zu seinen barocken Wurzeln zurückkehrt? Tatsächlich sieht Minkowski dort nicht mehr den Schwerpunkt seiner zukünftigen Tätigkeit im Aufnahmestudio, wenn es auch nicht seine letzte Barock-CD gewesen sein soll. Von Rameau hat er bereits preisgekrönte Operneinspielungen vorgelegt – vor allem „Platée“ gilt als Highlight. Die aktuelle Kompilation vereint Orchesterstücke aus Opern und Balletten und hat einen ganz praktischen Hintergrund: „2002 haben wir zum 20. Geburtstag der ‚Musiciens du Louvre‘ eine Gala zusammengestellt: drei Stunden Rameau, mit Sängern, Tänzern und TV-Übertragung. Das war viel Arbeit im Vorfeld, und ich dachte, einen Teil dieser Investition könnte man wieder verwenden. So kamen wir auf die Idee, eine ‚Rameau-Visitenkarte‘ auf CD abzugeben. Reine Orchesterwerke hat er ja nicht geschrieben, aber diese Nummern zeigen sein fantastisches Gespür für instrumentale Farben und Effekte.“

Die mitreißende Zusammenstellung ist nicht nur die Rehabilitation eines orchestralen Genies, sondern auch ein vitales Plädoyer für pralle barocke Sinnlichkeit: So entfesselt tobt der Sturm in „Platée“, so grimmig stampft der „Tanz der Wilden“ in „Les Indes galantes“, so spannend entwirrt sich das Schöpfungschaos in „Zaïs“, dass sich selbst gestrengen Puristen die Frage nach der Berechtigung einer solchen „Best-of“-Suite wohl nicht mehr stellt. Wer das berühmte Cembalo-Stück „La Poule“ bisher nur in seiner Originalfassung kannte, wird im instrumentalen Gewand mit pickenden Bläsern und scharrenden Streichern ein ganzes Hennen-Rennen erleben: „Da geht’s zu wie in einer Hühnchenfabrik“, grinst Minkowski verschmitzt.

Wie zufällig erlebt Rameau auch auf deutschen Bühnen gerade eine Renaissance – woran Minkowskis Referenzeinspielungen nicht unschuldig sein dürften. Die frenetische Impulsivität dieser Musik geht mit der emotionalen Waghalsigkeit der „Musiciens du Louvre“ eine perfekte Symbiose ein. Was ist eigentlich für deren Leiter der Inbegriff barocker Kraft? Ohne Zögern nennt der bekennende Cineast Stanley Kubricks Film „Barry Lyndon“. Auch wenn für das Sujet aus der Mitte des 18. Jahrhunderts Musik von Schubert verwendet wurde: „Das ist historisch zwar nicht korrekt, aber wen stört’s? Es funktioniert!“ Ein weiterer Favorit ist für ihn der legendäre Monteverdi-Zyklus von Ponnelle und Harnoncourt: „keine barocke Rekonstruktion, aber unglaublich nah am Puls dieser Epoche.“ Zum Händel-Hype hat er mittlerweile Distanz: „Ich bin manchmal erschrocken, wie sorglos Händel heute aufgeführt und aufgenommen wird: mit unpassenden Stimmen, oberflächlicher Realisation, haarsträubenden Verzierungen … Händel ist kein Pop-Marketing-Produkt!“

Als Mentor zieht Minkowski bereits die nächste Generation heran. Zwei seiner ehemaligen Assistenten sind schon gefragte Dirigenten: Sébastien Rouland und Benjamin Lévy, Gründer des „Orchestre de chambre Pelléas“, dessen „Jungfernkonzert“ Minkowski dirigierte. Der 43-Jährige fährt sich durchs ergrauende Haar: „Es macht ungeheuer viel Spaß, mit diesen jungen Leuten zusammenzuarbeiten.“ Er vertraut dem Nachwuchs. Sein enthusiastisches Engagement wirkt also weiter – und das ist alles andere als überraschend.

Biographie

Marc Minkowski, geboren 1962, studierte Dirigieren bei Charles Bruck an der Pierre Monteux Memorial School in den USA. Mit 20 Jahren gründete er das Ensemble „Les Musiciens du Louvre“, mit dem er auf den führenden Bühnen und Festivals in Europa (London, Aix-en-Provence, Amsterdam, Wien, Salzburg) auftritt. Als Operndirigent ist Minkowski regelmäßig an der Pariser Opéra (ständiger Gastdirigent) und in Zürich zu erleben. Außerdem stand er am Pult u. a. des Mahler Chamber Orchestra, City of Birmingham Symphony Orchestra, Chamber Orchestra of Europe, Orchestre National de France, Los Angeles Philharmonic Orchestra, Cleveland Orchestra, der Wiener Symphoniker und der Berliner Philharmoniker.