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Man ist, wo man glotzt

Oliver Samson23. September 2002

Fußball schauen ist öde? Kann sein. Oder auch nicht. Kommt ganz darauf an, wann und wo. DW-WORLD-Reporter Oliver Samson hat sich in Berliner Kneipen umgeschaut.

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Berlin, Potsdamer Platz: Stimmungsvoller ist es anderswo ...Bild: DW

René kommt aus Elsterwerda und von der Nachtschicht. Sein Kumpel Theo, gelernter Dreher, ist zur Zeit arbeitslos. Der 32-jährige Carsten ist frisch geschieden. Er hat sich für die WM Urlaub genommen. Zunächst mal für die Vorrunde. Sie sind die einzigen, die sich pünktlich zum Anpfiff zwischen Costa Rica und China (Dienstag, 4.Juni) in einer Friedrichshainer Kneipe eingefunden haben. Keine gute oder zumindest keine, die den Weg in einen Reiseführer finden würde. Holzvertäfelung, die Toiletten sind schon von weitem durch die Duftsteine zu erschnüffeln. Ein Schild vor der Tür verspricht „Alle Spiele, alle Tore.“ So lautet auch das WM-Motto von René, Theo und Carsten. Bisher haben sie es wahr gemacht. Auch wenn sie es an diesem Morgen fast bereuen. Ein schreckliches Spiel, ist man sich schon vor der Halbzeit einig. „Chinesen und Fußball, das passt einfach nicht“, glaubt Theo zu wissen. Vielleicht sollte er doch ein Bier trinken. René hat gerade sein drittes bestellt. So um die 70. Minute herum.

"Für dich Champagner?"

Magnet-Bar, Berlin-Mitte. Hier guckt die Szene, hier zählt Optik, hier wird gekifft. Zum zweiten Spiel des Dienstag-Vormittags haben sich gut 30 Leute vor der Großleinwand versammelt. Bier trinkt hier noch keiner, augenscheinlich ist man noch nicht lange aus dem Bett. Es spielt Japan gegen Belgien und die Szene jubelt für die Kleinen. Beim Führungstreffer für Japan springen alle geschlossen auf. Einer nicht. Er steht an der Bar und hat sich chic gemacht. Jede Strähne des knallroten Irokesenschnitts sorgfältig nach oben gewachst, dazu der braune Anzug. Auch bei stetig zunehmender Raumtemperatur legt er das Jackett nicht ab – wo er doch gerade interviewt wird. Ein Team einer Journalistik-Schule ist vor Ort. Mit einem Kameramann und Üben. Die Szene reagiert genervt. „Bald kommen noch welche vom evangelischen Bilderdienst“, motzt einer der Betreiber. Beim dritten Spiel des Tages wird es voll. Süd-Korea spielt Polen an die Wand und die - natürlich - bildhübsche Bedienung im Italien-Trikot hat gut zu tun: Die ersten Biere werden geordert. Eine Szene-Koreanerin bejubelt ausgelassen den Sieg ihres Heimatlandes. Von hinten legt ihr der Barmann die Hand auf die Schulter: „Für dich Champagner?“

"Rossia"

Nach dem Karriere-Ende eine Sportsbar zu eröffnen scheint für Ex-Profis langsam eine Alternative zum klassischen Toto-Lotto-Lädchen zu werden. Ex-Hertha BSC-Spieler Axel Kruse hat seine Kneipe in den Jannowitzbögen. Viel ist hier um 8.30 Uhr noch nicht los, auch der Hausherr lässt sich nicht blicken. Kleine Grüppchen sitzen in der geräumigen Bar um einige der reichlich vorhandenen Fernseher. Man muss kein ausgewiesener Fußballkenner sein um zu wissen, dass bei Russland gegen Tunesien (Mittwoch, 5.Juni) kein Leckerbissen zu erwarten ist, für den man sich Urlaub nimmt, den Wecker stellt, nach der Nachtschicht wach bleibt, blau macht.

Das sehen die Anwesenden anders. Sie sprechen zum großen Teil russisch, den meisten ist anzusehen, dass ihre Schulpflicht noch nicht abgelaufen ist. Immerhin haben die Tunesier im Raum offensichtlich die Schule schon hinter sich gebracht. Sie sitzen an einem anderen Fernseher. Kommunikation findet zwischen den Fangruppen nicht statt.

Nach dem Schlusspfiff verlassen die Russen das Lokal. Sie haben gewonnen und ihr Weg führt an den Tunesiern vorbei. Einer nimmt seinen Russlandschal in die Hände, spannt ihn über seinem Kopf, ruft den Tunesiern ein schallendes „Rossia“ ins Gesicht, dreht sich um und geht. Die Tunesier nehmen es gelassen. Sie haben gelernt zu verlieren. Oder es ist ihnen zu früh am Tag, um sich aufzuregen. Es ist 10.18 Uhr.