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Machtkampf unter alten Freunden

Alexandra Scherle 23. Dezember 2013

Der Korruptionsskandal in den Führungszirkeln der Türkei bringt Regierungschef Erdoğan zunehmend in Bedrängnis. Als mächtiger Widersacher gilt der Prediger Fethullah Gülen, der viele Anhänger bei Polizei und Justiz hat.

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Porträt des islamischen Predigers Fethullah Gülen - Foto: Zaman (AP)
Bild: picture-alliance/AP

Der 72-Jährige mit dem weißen Schnauzbart wohnt in einem gut abgeschirmten Haus in Saylorsburg, Pennsylvania, und empfängt nur noch wenige Gäste. In den USA lebt der aus der Türkei stammende Prediger Fethullah Gülen seit 1999. Damals hatte er sich nach einem Krankenhausaufenthalt dazu entschlossen, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren.

Gerade in den USA hat seine Bewegung einen guten Ruf, "weil sie als eine reformistische Strömung im Islam verstanden wird, die für säkulare Bildung und einen interreligiösen Dialog eintritt", so der Türkei-Experte Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der vor Kurzem eineStudie über die Gülen-Bewegungveröffentlicht hat.

Der charismatische Anführer der Bewegung wurde 1941 als Sohn eines Imams in einem Dorf in der Provinz Erzurum in Anatolien geboren. 1959 wurde er selbst Imam, er beeindruckte die Gläubigen vor allem durch seine mitreißenden Reden. 1968 übernahm er in der Großstadt Izmir das Amt des Predigers für die türkische Ägäisregion - eine Position, die ihm viele Reisen ermöglichte, auf denen er immer mehr Anhänger fand.

Kein Gegner des säkularen Staates

Nach dem Staatsstreich des türkischen Militärs im Jahr 1971 wurde Gülen festgenommen. Sie hatten ihren Putsch unter anderem mit der Gefahr "reaktionärer religiöser Umtriebe" begründet, schreibt Seufert in seiner Studie. Die Anklage gegen Gülen lautete: "Ausbeutung religiöser Gefühle für eigennützige und politische Zwecke."

Recep Tayyip Erdoğan - Foto: KayhanOzer (EPA)
Ministerpräsident Erdoğan: Geschwächt durch KorruptionsskandalBild: picture-alliance/dpa

Doch im Rahmen einer Amnestie kam er nach kurzer Zeit wieder frei. Schon 1972 nahm er seine Arbeit als Prediger wieder auf. Sein Einfluss wuchs konstant: Ende der 1970er Jahre entstanden die ersten privaten Bildungsinstitutionen, die von seinen Lehren beeinflusst sind.

Gülen plädierte dafür, dass sich Muslime gegen "den Verfall der Sittlichkeit" in der Gesellschaft einsetzen sollen - also konservative Werte wie Glaube und Familie über den modernen Individualismus stellen - allerdings immer innerhalb der bestehenden säkularen staatlichen Strukturen.

Als die Generäle 1980 erneut putschten, sprach er sich sogar in einem Artikel für den Staatsstreich aus. "Dass Gülen den Staatsstreich befürwortete, hat es seiner Bewegung in den folgenden 17 Jahren ermöglicht, von säkularen Kräften relativ unbehelligt zu wirken", schreibt Günter Seufert in seiner Studie über die Gülen-Bewegung. Schon früh grenzte sich Gülen von Parteien ab, die einen politischen Islam propagierten. Für die Gülen-Bewegung gehe es nicht nur darum, "die Tradition einfach weiterzuleben, sondern auch über die Erkundung der Natur Gott in Naturgesetzen und Physik zu erkennen und wiederzufinden", so Günter Seufert im DW-Gespräch.

Von säkularen Kräften lange geduldet und gefördert

Die moderat islamische Gülen-Bewegung hatte in den 1990er Jahren den Höhepunkt ihres Einflusses erreicht - vor dem innenpolitischen Hintergrund des Erfolgs der islamistischen Partei von Necmettin Erbakan, die 1995 die meisten Stimmen bei der Parlamentswahl bekam. Im Vergleich zu dieser Partei waren die Ansichten Gülens viel moderater: Beispielsweise plädierte er nicht dafür, dass muslimische Frauen ein Kopftuch tragen sollen. Gülens Bewegung sei lange als unpolitisch wahrgenommen und von den säkularen Kräften "nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert" worden, so Günter Seufert.

Günter Seufert - Foto: DW
Türkei-Experte Seufert: "Neue konservative Bildungselite"

Für das Militär seien Gülen und seine Bewegung damals ein "Gegengewicht zum politischen Islam" gewesen. Doch nachdem die Generäle die erste islamistische Regierungspartei in der modernen Türkei erfolgreich zurückgedrängt hatten, "fühlte sich Gülen persönlich bedroht" - und emigrierte 1999 in die USA, wo er noch heute lebt. Dass der Prediger im Exil lebt, hat den Erfolg der Bewegung nicht geschmälert: Weltweit gibt es mehrere Millionen Gülen-Anhänger. Allein in Deutschland gibt es Presseberichten zufolge rund 300 Vereine der Gülen-Bewegung und mindestens ein Dutzend Privatschulen.

In der Türkei hat die Gülen-Bewegung "über ihr Bildungsnetzwerk eine neue konservative Bildungselite hervorgebracht", so Seufert. Außerdem würden "Seilschaften dieser Bewegung heute eine eigene Politik machen - in Justiz, Polizei und Militär." Diese Politik ziele in erster Linie darauf, die konservativ-islamische Erdoğan-Regierung zu schwächen, "weil sich die Gülen-Bewegung von dieser bedroht fühlt". Unter anderem hatte Erdoğan vor einigen Wochen angekündigt, mehrere private Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung schließen zu lassen.

Verhaftungen nach Korruptionsskandal

Proteste gegen AKP in Istanbul - Foto: Osman Orsal
Wasserwerfereinsatz bei Demonstration in Istanbul: Protest gegen Korruption und Bauprojekte der RegierungBild: REUTERS

Im Justiz- und Polizeiapparat gilt die Gülen-Bewegung als besonders einflussreich - wie viele ihrer Anhänger dort tatsächlich tätig sind, ist nicht bekannt, weil die meisten sich nicht offen dazu bekennen. Die AKP von Premier Recep Tayyip Erdoğan und die Gülen-Bewegung "haben früher eng zusammengearbeitet, um die säkular ausgerichtete Elite des Landes zu schwächen", so Seufert. Doch heute tobt ein Machtkampf zwischen den beiden Lagern. Der Sohn des Innenministers und der des Wirtschaftsministers aus Erdoğans Kabinett sitzen wegen Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft. Außerdem wurde gegen den Vorsitzenden der staatlichen Halkbank ein Strafverfahren eingeleitet. Die Bank wird beschuldigt, illegale Gold-Geschäfte mit dem Iran zu machen.

Erdoğan ließ mindestens 75 Verantwortliche aus dem Polizeiapparat verhaften, berichten türkische Medien. Kritiker vermuten einen Zusammenhang zwischen diesen Verhaftungen und dem Machtkampf mit der Gülen-Bewegung.

In Istanbul demonstrierten am Sonntag (22.12.2013) Tausende von Menschen gegen Korruption und Bauprojekte der Regierung. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein.

Der Korruptionsskandal "schwächt Erdoğan und seine Partei schon jetzt" - und wird voraussichtlich auch das Ergebnis der Präsidentschafts- und Kommunalwahlen 2014 beeinflussen, so Türkei-Experte Seufert. "Wenn die AKP-Regierung als genauso korrupt wie ihre Vorgänger empfunden wird, ist das ein entscheidender Schlag gegen Erdoğan."