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Loveparade 2010 - Schreie im Hirn bleiben

Wolfgang Dick23. Juli 2015

Es sollte die größte Techno-Party Deutschlands werden. Es wurde die Hölle. 21 Menschen starben, weil Zugänge zum Gelände in Duisburg zu eng waren für die Besuchermassen. Noch heute leiden viele, die damals dort waren.

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Duisburg Loveparade Katastrophe 5 Jahre danach Unglückstunnel
Bild: DW/Wolfgang Dick

"Warum?" - diese Frage hämmert immer wieder jede Konzentration auf den normalen Alltag von Jörn Teich weg. Warum wurde eine Feier an einem Ort zugelassen, der so viele Menschen gar nicht aufnehmen konnte? Warum mussten Menschen sterben? Der 41-jährige gelernte Florist, der damals einfach nur tanzen und feiern wollte, hat seit fünf Jahren auf diese Frage keine Antworten, denn ein Gerichtsprozess hat bis heute die Hintergründe nicht wirklich aufgedeckt, viele Opfer sind nicht entschädigt, Verantwortliche nicht verurteilt.

Dabei ist im Leben von Jörn Teich nichts mehr normal. In Tagesalpträumen, so genannten Flashbacks, hat er immer wieder dasselbe Bild vor Augen: den engen Tunnel, durch den der Ort der geplanten Feier zu erreichen sein sollte. Er sieht das Licht am Ende des Tunnels. Er spürt die unerträgliche Hitze in sich aufsteigen, er hört die Schreie der Menschen, die sich drängeln, die keine Luft mehr bekommen, die keine Ausweichmöglichkeit mehr haben und schließlich ersticken oder zerquetscht werden. "Warum?" - die Frage pocht immer wieder. Posttraumatische Störung nennen es nüchtern Psychologen, die Jörn seit 2010 betreuen und viele andere, die sich zwar irgendwie retten konnten, aber heute arbeitsunfähig sind, weil sie sich nicht mehr konzentrieren können und damit den Anforderungen der modernen Arbeitswelt nicht mehr standhalten.

Duisburg Loveparade Katastrophe 5 Jahre danach Jörn Teich
Jörn Teich: "Jeder Tag dreht sich um die Ereignisse vom 24. Juli 2010"Bild: DW/Wolfgang Dick

"Mein Leben hat sich um 360 Grad gedreht. Früher bin ich gerne rausgegangen und habe gefeiert. Jetzt bin ich eher in mich gekehrt, für mich alleine", erzählt Jörn Teich, der Stille schätzen gelernt hat und Hektik nicht mehr zulässt. "Mein Freundeskreis hat sich sehr reduziert". Teich lebt mit seiner Tochter in einem betreuten Wohnprojekt der Sozialhilfe. Seine Beziehung zerbrach. Um mit den Erlebnissen fertig zu werden, kümmert er sich in einem Verein um Angehörige der Opfer und um Überlebende, die ähnliche Folgen zu tragen haben.

Selbst eine Fußgängerzone wird für ihn zum Käfig. Geschlossene Räume sind nahezu unerträglich. "Ich blicke ständig nach dem Notausgang". Immer wieder besucht Jörn Teich die schmale Treppe, die für viele Partygänger die Rettung versprach, die sie aber nicht mehr erreichten. Seit fünf Jahren stehen dort die Bilder der Verstorbenen, sind immer wieder Blumen und Kerzen aufgebaut.

Duisburg Loveparade Katastrophe 5 Jahre danach - Gregor auf einer Bank vor der Trauerstelle
Trauer braucht für Gregor DistanzBild: DW/Wolfgang Dick

Schicksalsschläge

Nur wenige Meter von dieser Treppe entfernt sitzt vor dem Jahrestag der Katastrophe ein Mann, der dort stundenlang schweigend verharrt. Näher kommen mag er nicht. "Ich kann das nicht. Ich muss hier sitzen bleiben", sagt er. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass es sich um einen ehemaligen Rettungshelfer handelt, der im Juli 2010 die "Loveparade" eigentlich rein privat besuchte, dann aber Ohnmächtige versorgte. Gregor, wie er sich vorstellt, versuchte schließlich ein junges Mädchen wieder zu beleben. Es mißlang. Die junge Frau starb in seinen Armen. Verwunden hat auch Gregor das nie. Er musste sich wegen eines Traumas behandeln lassen. Als er zurück in seinen Job als Rettungshelfer wollte, wurde ihm das verweigert. Argument der zuständigen Zulassungsbehörde: Die Gefahr eines Rückfalls in die psychische Krise und des Versagens in einer Notfallsituation sei zu groß.

Seitdem ist auch Gregor abeitslos. In der Folge verlor er auch seine Wohnung und seine Frau. "Es war ganz schlimm und ganz tragisch. In den ersten drei Jahren war ich kurz davor, mir das Leben zu nehmen." Gregor bricht die Stimme weg. Er hat von mehreren tatsächlich begangenen Selbstmorden nach dem Desaster gehört. Sehr geholfen habe ihm der Trost der Eltern des verstorbenen Mädchens. Sie hätten ihn in den Arm genommen und gesagt, dass er alles getan habe, was er tun konnte. Es sei nicht seine Schuld. "Das hat mit sehr geholfen und mir wieder Kraft gegeben". Fassungslos und wütend macht ihn, dass fünf Jahre nach der Veranstaltung immer noch nichts juristisch aufbereitet ist.

Duisburg Loveparade Katastrophe 5 Jahre danach - die Treppe auf der viele Tote geborgen wurden ist heute mit Blumen und Kerzen versehen.
Die Zeichen stiller Trauer wurden immer wieder Opfer von Vandalismus - die Polizei ermitteltBild: DW/Wolfgang Dick

Lippenbekenntnisse

Während sich der Prozess vor dem Landgericht Duisburg gegen vermeintlich Schuldige der verunglückten Loveparade in die Länge zieht, wurde in der Stadt Duisburg ein Mahmal nach dem anderen gebaut. An der Unglückstelle selbst prangt eine Gedenktafel in mehreren Sprachen. Flaggen der Länder aus denen die Opfer stammten, sind gegenüber einer Gedenkwand aufgehängt. In einem kleinen Park am Rand des stillgelegten Güterbahnhofs, auf dem die Loveparade stattfand, sind die Namen der Opfer in eine rostigen Stahlwand eingelassen.

Duisburg Loveparade Katastrophe 5 Jahre danach - Gedenktafel im Duisburger Park
Zeichen öffentlicher Trauer gibt es in Duisburg viele -nur keine SchuldeingeständnisseBild: DW/Wolfgang Dick

Seit fünf Jahren setzen sich Anwälte von Angehörigen der 21 Toten und von geschädigten Überlebenden mit den Strafverteidigern der Beschuldigten in einem Gerichtsverfahren auseinander. Fast viertausend Zeugen wurden befragt, rund tausend Videos von der Unglücksstelle ausgewertet und immer wieder werden Gutachten mit Gegengutachten konfrontiert. Darunter auch die Expertise des britischen Panik- und Crowdforschers Keith Still. Auf vielen Seiten behandelt er die Frage, wie sich große Ansammlungen von Menschen verhalten und wieviel Platz eine Großveranstaltung mindestens benötigt. Fazit daraus: Die Loveparade 2010 hätte niemals genehmigt werden dürfen. Weil der Forscher sich öffentlich zu seiner Studie äußerte, wird die Eignung des Gutachters und seiner Belege angezweifelt. Das blockiert den Fortgang des Prozesses natürlich weiter.

So stapelt sich bei Julius Reiter die Arbeit auf dem Schreibtisch. Der Jurist ist Partner des ehemaligen Innenministers Gerhart Baum in einer Düsseldorfer Kanzlei, die sich auf Verbraucher- und Opferschutz spezialisiert hat. Wenn Betroffene der Katastrophe davon berichten, wie sie mit den Folgen ohne Hilfe klarzukommen versuchen, fließen hier schon mal Tränen. Julius Reiter erlebt die rechtliche Aufarbeitung der Loveparade 2010 seit fünf Jahren täglich mit und kann die Dauer des Verfahrens nicht fassen. "Unsere Mandanten verlangen nichts besonderes. Sie möchten nur verstehen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, damit sie mit allem abschließen und für sich Ruhe finden können." Die schleppende rechtliche Aufklärung erklärt der Anwalt Reiter mit den Auseinandersetzungen um immer neues Beweismaterial.

Anwalt Julius Reiter an seinem Schreibtisch
Anwalt Julius Reiter: "Der Opferschutz in Deutschland ist unterentwickelt".Bild: DW/Wolfgang Dick

Reiter ist noch die Aussage des Oberstaatsanwalts präsent, der bereits im Jahr 2011 feststellte, dass bei der Zulassung und der Durchführung der Veranstaltung massive Fehler unterlaufen seien. Vor diesem Hintergrund hat Reiter Verständnis für seine Mandanten, die meinen, die falschen Personen säßen auf der Anklagebank. Nicht angeklagt wurde der Veranstalter, der den Ort und einen Großteil der Ordner auswählte. Das Gericht verzichtete auch auf den Bürgermeister, der die Veranstaltung aus Prestigegründen unbedingt in seiner Stadt ausrichten wollte, nachdem sie in Berlin nicht mehr stattfinden konnte. "Die Erwartung der Mandanten, Gerechtigeit zu erleben, wird vor Gericht wohl enttäuscht werden", befürchtet Reiter. "Wir werden weitere juristische Scharmützel der Strafverteidiger erleben". Italien, so Reiter, habe bewiesen, dass es auch schneller geht. Im Verfahren um die gesunkene Costa Concordia habe es bereits anderthalb Jahre nach dem Unglück Verurteilungen der Verantwortlichen und Entschädigungen für die Opfer und die Angehörigen der Toten gegeben.

Jörn Teich, dem Besucher der Loveparade 2010, der beinahe zerquetscht wurde, ist das alles inzwischen egal. Er arbeitet jetzt an einer Stiftung, die Geld für die psychologische Hilfe organisieren soll. "Ich glaube nicht mehr an den Prozess. Da wird mehr vertuscht als aufgeklärt. Damit hat der Rechtsstaat aufgehört zu existieren.", sagt Teich und zieht sich Kopfhörer mit lauter Musik auf. Damit versucht er die vielen Menschen um sich herum zu ignorieren. Die laute Musik auf dem Kopfhörer unterdrückt nur eines nicht. Die Frage: Warum?