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Literarische Philosophie über die Zeit

Jochen Kürten
28. August 2012

Kann man das Phänomen Zeit literarisch erfassen? Der neue Roman von Martin Suter widmet sich diesem diffizilen Thema. Und wie immer wird bei dem Schweizer Autor daraus ein spannender und origineller Roman.

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Nahaufnahme von Kalender-Seiten (Foto: Fotolia/naftizin)
Symbolbild KalenderBild: Fotolia/naftizin

Je älter man wird, desto bedeutungsloser wird die Zeit, sagt der alte Mann an einer Stelle der Romanhandlung. Und doch ist auch genau das Gegenteil richtig. Das weiß natürlich auch Martin Suter und hat um dieses Paradoxon seinen neuen Roman geschrieben. Knupp, der alte Mann in Suters Roman "Die Zeit, die Zeit", tut alles dafür, die Zeit zurückzudrehen. Wobei Knupp, die Romanfigur, diese Formulierung vermutlich strikt ablehnen würde. Zeit existiert für ihn nicht, und deshalb kann man sie natürlich auch nicht zurückdrehen.

Von der Rekonstruktion der Zeit

Knupp will nur einen ganz bestimmten Tag noch einmal erleben. Vor 20 Jahren starb seine Frau. Darüber ist er nicht hinweggekommen, und deshalb will er zurück. Doch nicht mit Zeitmaschinen à la Hollywood, nicht mit Tricks und Technik will er sich in frühere Jahrzehnte katapultieren, sondern schlichtweg mit einem scheinbar simplen Kniff. Knupp verändert die Welt - und zwar genauso, wie sie einmal war. Er stellt einen kleinen Teil der persönlichen Welt wieder her - um so die Zeit auszutricksen: Knupp rekonstruiert sein Haus, seine Wohnung, seinen Garten nach alten Fotografien und will so einen ganz bestimmten, 20 Jahre zurückliegenden Tag, wiederherstellen. Das klingt kompliziert und ist es auch. Auch absurd und unvorstellbar. Und da der alte Knupp das alleine nicht schafft, holt er sich Hilfe bei Peter Teller, einem Nachbarn, der eigentlichen Hauptfigur des Romans. Dem ist das gleiche passiert wie Knupp. Er hat seine Frau verloren. Was tatsächlich hinter der Verbindung der beiden Witwer steht, das verrät Martin Suter erst ganz am Ende seines Romans.

Buchcover 'Die Zeit, die Zeit' von Martin Suter (Diogenes Verlag)
Bild: Diogenes

Suter wäre nun nicht Suter, wenn er seiner Erzählung nicht ein gehöriges Maß Spannung mit auf den Weg geben würde. Das kann der Schweizer Bestsellerautor. Anders als in seinen letzten Büchern ist es ihm hier aber ernst. Es fehlt diesmal die leichte Note, der heitere Blick auf die Welt der Reichen und ehemals Vermögenden, die bei diesem Autor eigentlich fast immer eine Rolle spielen. "Die Zeit, die Zeit" ist auch ein Roman zweier Verzweifelter, die einen schweren Verlust erlitten haben. Und wer mag, der kann nach autobiografischen Verweisen suchen in der jüngeren Vita des Schriftstellers.

... alles geschieht gleichzeitig

Wie wird man mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig? Kann man das Rad der Zeit zurückdrehen? Und wenn ja, wie stellt man das an? Diese fast schon philosophisch anmutenden Fragen grundieren den Roman. "Es gibt keine Zeit, deshalb geschieht alles gleichzeitig", behauptet eine Jüngerin der Theorie nicht-existenter Zeit im Roman, und dahinter steckt die Hoffnung, noch einmal zurückzukehren, wenn nicht ins Paradies, so zumindest doch in einen Zustand des ganz eigenen, persönlichen Glückszustandes.

Peter Teller steht dem ausgetüftelten Zeit-Experiment Knupps skeptisch gegenüber - bis zum Schluss. Und doch lässt er sich mehr und mehr faszinieren von der Akribie des alten Mannes. Und wohl auch von der winzigkleinen Hoffnung, dass das Experiment glücken könnte. Der eigenen geliebten Frau noch einmal zu begegnen, daran klammert sich Teller in seiner Einsamkeit.

Ein Romanexperiment

Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter (Foto: dpa)
Martin SuterBild: picture-alliance/dpa

Was sich wie ein verkitschtes Hollywood-Drehbuch anhört, wird bei Suter zu einem detailliert beschriebenen Experiment. Das ist an manchen Stellen ein wenig mühselig zu lesen, wenn Suter über den Rückbau von Zwergahorn und Lysander, von Buchsbaum und Ginster schreibt. All diese Pflanzen müssen - nach der Knuppschen Theorie - in den Urzustand zurückversetzt werden. Aber vielleicht ist es gerade diese manische Beschreibungswut, die uns Lesern überhaupt eine Vorstellung davon macht, was Zeit ist. Denn darum geht es letztendlich: dass wir uns Gedanken machen, was das Leben ist, was wertvoll und was unwichtig, um was es wirklich geht und was zu vernachlässigen ist. Denn bedeutungslos ist die Zeit wohl für niemanden.

Martin Suter: "Die Zeit, die Zeit", Diogenes Verlag Zürich 2012, 304 Seiten, 21,90 Euro, ISBN-13: 978-3257068306.