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Literarische Brückenbauerin: Katja Petrowskaja

Jochen Kürten8. Juli 2013

In der Ukraine geboren, lebt die Schriftstellerin Katja Petrowskaja inzwischen in Berlin. Mit einem fulminanten Auszug aus dem Erzählband "Vielleicht Esther" zog sie die Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Bann.

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Die Autorin Katja Petrowskaja (Foto: Sasha Andrusyk) Bild: Sasha Andrusyk Angeliefert von Evgeni Zhukov am 2.7.2013
Bild: Sasha Andrusyk

"Eine wunderbare Öffnung des deutschen Sprachraums für die Sammlung europäischer und außereuropäischer Bewusstseinslagen" registrierte der Jury-Vorsitzende Burkhard Spinnen. Spinnen bezog sich damit auf die Tatsache, dass beim 37. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit der Siegerin Katja Petrowskaja nun schon zum dritten Mal hintereinander ein Text prämiert wurde, der von einer nicht aus Deutschland stammenden Autorin kam.

Jedes Jahr im Sommer kommen im österreichischen Klagenfurt junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller zusammen, um sich in einem literarischen Wettbewerb zu messen. Eine Jury aus Kritikern hat dann die Aufgabe, ihre Werke zu beurteilen. Die von den Autorinnen und Autoren vor Publikum verlesenen Texte dürfen noch nicht erschienen sein. Im Anschluss an die einzelnen Lesungen stellen sich die Schriftsteller den Diskussionen der Jury. Am Ende gibt es verschiedene Auszeichnungen: der renommierte Ingeborg-Bachmann-Preis ist der "Hauptgewinn".

TV-Übertragung auch in Zukunft

Vom Fernsehen wird das literarische Spektakel live übertragen. Übrigens auch in Zukunft. Noch vor kurzem hatte der übertragende Sender ORF die Veranstalter mit der Nachricht aufgeschreckt, den Literaturpreis aus Spargründen einstellen zu wollen. Das ist nun vom Tisch.

Katja Petrowskaja in Klagenfurt (Foto: EPA/GERT EGGENBERGER dpa - Bildfunk)
Katja Petrowskaja in KlagenfurtBild: picture-alliance/dpa

"Tage der deutschsprachigen Literatur" heißt der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb auch, was darauf hindeutet, dass Autoren vorwiegend aus der Schweiz, Österreich und aus Deutschland zugelassen sind - eben alle, die ihre Manuskripte in deutscher Sprache verfasst haben. Dazu zählen seit ein paar Jahren aber auch viele Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund. Spinnen begrüßt diese Entwicklung. Zweisprachig aufgewachsene Menschen hätten ein anderes Verhältnis zur deutschen Sprache. Das sei auch ein Auslöser für die Moderne gewesen, so eine in der Kulturgeschichte aufgestellte Theorie.

Literarische Brückenbauerin

Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew in der heutigen Ukraine geboren, damals noch Teil der Sowjetunion. Kurz nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986) verließen ihre Eltern die Heimat. Petrowskaja studierte später Literaturwissenschaft und Slawistik in Estland, ging Mitte der 1990er Jahre für ein Stipendium in die USA und promovierte anschließend in Moskau. Seit einigen Jahren nun lebt sie in Berlin, schreibt für russische und deutsche Medien, unter anderem eine regelmäßige Kolumne für eine große deutsche Sonntagszeitung.

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Die Jury konnte Petrowskaja mit einem Auszug aus ihrem Erzählband "Vielleicht Esther" überzeugen, der im kommenden Frühjahr beim Suhrkamp-Verlag erscheinen wird. Darin geht es um die Wochen vor dem Massaker deutscher Soldaten in Babij Jar. Im September 1941 wurden damals rund 33.000 Juden erschossen - eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Petrowskaja nähert sich diesen historischen Ereignissen mit einer Mischung aus dokumentarischen und fiktiven Materialien. Authentische Personen und Geschehnisse werden mit märchenhaften und fiktiven Gesprächen und Ereignissen vermischt.

Annäherung an die Urgroßmutter

Im Mittelpunkt steht Esther, eine Figur, in der die Urgroßmutter der Autorin hervorscheint, die von den Nazis ermordet wurde. Das Wort "Vielleicht" im Titel des Romans deutet es an: Petrowskaja geht es auch um eine übergeordnete poetische Verfremdung. Der Text greift Motive aus griechischen Sagen Homers auf, verzahnt sie mit realen Ereignissen, mischt Erinnerungsfetzen und Rekonstruktionen in den Erzählfluss. "Auch authentische Zeugen könnten nicht dafür garantieren, dass sich die Geschichte so zugetragen habe", sagte Jurymitglied Hubert Winkels im Anschluss an die Lesung Petrowskajas. Der Band heiße nicht umsonst 'Vielleicht Esther', weil es keine Garantie mehr dafür gibt, was wahr ist.

Babi Jar, Ukraine, Kulturpark / Foto Babi Jar - Babyn Jar
Erinnerungen an das Grauen: der Kulturpark in Babij Jar heuteBild: picture alliance/akg-images

"Nur wenn man an die Unzuverlässigkeit der Erinnerung glaubt, kann so eine Geschichte erzählt werden - eine sehr geglückte Sache", urteilt die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, ebenfalls Jurorin in der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Jury. Die Kritikerin Meike Feßmann hob besonders die ästhetische Form des Textes hervor: "Locker, leicht, gewebt, der Text tanzt und schwebt trotz seines gewichtigen Themas." So fiel das Urteil der Jury eindeutig aus: Im ersten Wahlgang wurde "Vielleicht Esther" zum Sieger gekürt. Auch das Publikum hatte sich bei der Lesung Petrowskajas am Freitag tief beeindruckt gezeigt. Nur selten in der Geschichte dieses literarischen Wettbewerbs hat ein Text eine solche Ergriffenheit und stürmische Begeisterung hervorgerufen wie "Vielleicht Esther".

Schweres Thema - "schwerelos" erzählt

Petrowskajas große Leistung ist es, dem Leser ein großes und auch schweres Thema nahezubringen, ohne den Text unter moralischen Appellen und historischen Fakten zu begraben. "Ich beobachte diese Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen. Ich sitze oben, ich sehe alles!" - so heißt es an einer Stelle des Manuskripts. Es ist eine radikal subjektive Sicht, die dem Leser eröffnet wird. Petrowskaja tastet sich fragend an das Thema heran, arbeitet immer wieder mit historischen Verweisen und literarischen Reflexionen.

Katja Petrowskaja und andere Ausgezeichnete beim Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt (Foto: dpa)
Katja Petrowskaja inmitten der anderen Preisträger beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2013Bild: picture-alliance/dpa

Nach Maja Haderlap, einer in Slowenisch schreibenden Österreicherin vor zwei Jahren und im vergangenen Jahr Olga Martynova, die in Leningrad aufwuchs und später nach Deutschland übersiedelte, ist Katja Petrowskaja nun die dritte Autorin, die der deutschsprachigen Literatur eine neue Facette hinzufügt. Der Ingeborg Bachmann-Preis hat sich somit in den letzten Jahren auch zu einem europäischen Kulturereignis entwickelt. In dessen Zentrum stehen immer noch auf Deutsch verfasste Texte. Der Horizont hat sich aber zu einem gesamteuropäischen verschoben.