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Für immer hinter Gitter

Iveta Ondruskova26. Februar 2015

Das Landgericht Oldenburg hat den früheren Krankenpfleger Niels H. verurteilt. Er ist wohl für eine der größten Mordserien der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich. Was steckt hinter seinen Taten?

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Plädoyes im Prozess gegen ehemaligen Krankenpfleger
Bild: picture-alliance/dpa/C. Jaspersen

Kriminalpsychologin Lydia Benecke zum Krankenpfleger-Urteil

Seit 2009 sitzt der ehemalige Krankenpfleger Niels H. in Haft. Auch den Rest seines Lebens wird er hinter Gittern verbringen müssen. Siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe bekam er bereits in seinem ersten Prozess. Im zweiten, der im September 2014 begann, hat er nun lebenslänglich bekommen. Das Landgericht im niedersächsischen Oldenburg verurteilte den Ex-Pfleger wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung an Patienten des Klinikums Delmenhorst.

Dennoch wird auch ein dritter Prozess gegen Niels H. folgen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er ins Rollen gebracht wird. Denn Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln weiter. Eine Sonderkommission, die Soko Kardio, überprüft derzeit mehr als 200 Sterbefälle. Alles Patienten, die der Pfleger betreut hatte. In allen Verdachtsfällen soll nun - nach mehr als zehn Jahren - geklärt werden, was die Todesursache war.

Tatort: Krankenhaus

Prof. Christel Bienstein (Foto: privat)
Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für PflegeberufeBild: privat

In Deutschland werden laut Christel Bienstein, der Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, jährlich über 18 Millionen Menschen in Krankenhäusern und mehr als 2,4 Millionen auf Intensivstationen versorgt. Bewusste Tötungen von Patienten durch Pflegepersonal seien nicht auf "Arbeitsüberlastung" oder "Burnout" zurückzuführen. Vielmehr handele es sich bei den Tätern um Menschen, die zum Beispiel ein sehr geringes Selbstbewusstsein hätten und durch "Rettungsversuche" auf sich aufmerksam machen wollten, sagte Christel Bienstein im DW-Gespräch. Unter den Pflegenden gebe es das gleiche Spektrum an Charakteren wie überall in der Gesellschaft. "Da Pflegende aus unserer Gesellschaft kommen, spiegeln sie diese auch wider."

Kriminalpsychologin Lydia Benecke zum Krankenpfleger-Urteil

Niels H. hat schon 30 Morde gestanden. Alle geschahen ihm zufolge in Delmenhorst. Dort arbeitete er von Januar 2003 bis Sommer 2005 im Krankenhaus auf der Intensivstation. Er spritze Patienten eine Überdosis eines Herzmittels, um sich dann als Retter zu profilieren. Er spritzte nur so viel, dass die Patienten nicht unbedingt starben, aber wiederbelebt werden mussten. Der Pfleger wollte als Lebensretter dastehen. Doch oft ging es schief - und keine Reanimierung war mehr möglich. Insgesamt 90-mal versuchte er es, wobei 60 Patienten überlebten und 30 starben.

Tatmotiv: Gier nach Lob und Anerkennung

Solche Fälle machen fassungslos: Ein Serienkiller im Krankenhaus? Warum tötet jemand fremde, kranke und hilfslose Menschen?

Darüber hat auch Niels H. sehr lange nichts gesagt. Sein Schweigen bricht er erst im Dezember 2014 gegenüber dem forensischen Psychiater Konstantin Karyofilis. Ihm gegenüber legt der 38-jährige kräftige Mann auch sein Geständnis ab. Niels H. selbst halte sich nicht für psychisch krank. Auch für den Forensiker Karyofilis ist er voll schuldfähig. Ihm zufolge hat der Pfleger immer wieder Notfälle verursacht, damit er zeigen konnte, was er kann. Er konnte als zupackender Retter auftreten, bekam dafür Lob und Anerkennung. Danach habe er gegiert. Das Gefühl, etwas toll gemacht zu haben, habe über Tage angedauert, gibt Karyofilis die Worte des Pflegers wieder. Die Arbeit auf der Intensivstation habe ihn gleichzeitig sehr belastet. Er habe den Kontakt zu den Patienten verloren, diese nicht mehr als Menschen gesehen. Er habe unter Depressionen und Ängsten gelitten.

Konstantin Karyofilis (Foto: dpa)
Psychiater und Forensiker Konstantin KaryofilisBild: picture-alliance/dpa/I. Wagner

Zunächst Pfleger aus Überzeugung

Niels H., geboren 1976, wächst in Wilhelmshaven in einem katholischen Elternhaus auf. Im gleichen Krankenhaus, wo sein Vater als Pfleger arbeitet, macht er von 1994 bis 1997 eine Ausbildung. Schon seine Großmutter war Krankenschwester. Die ganze Familie hat mit helfenden Berufen zu tun. Zwei Jahre bleibt er nach seiner Ausbildung im St. Willehad-Hospital in Wilhelmshaven.

1999 bewirbt er sich in Oldenburg. Er ist engagiert und weiß viel über Medikamente und Behandlungsmethoden. Doch den Kollegen fällt bald auf, dass Niels H. ständig bei Reanimationen anwesend ist. Dass er immer da ist, wo etwas passiert. Die Kollegen nennen ihn erst "Pechvogel", dann "Pechbringer". Das Klinikum will ihn deshalb loswerden.

2003 fängt er in Delmenhorst an. Auch hier merken die Kollegen bald, dass mit dem Mann etwas nicht stimmt. Manche wollen keinen Nachtdienst mehr mit ihm zusammen machen, weil er irgendwie "unheimlich" sei. Die Kollegen nennen ihn erst "Rettungsspinner", dann "Rettungsrambo". Im Juni 2005 ertappt schließlich eine Krankenschwester Niels H. auf frischer Tat. Eine Woche darauf wird er verhaftet. Für diesen Mordversuch wird er 2008 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Erst dann kommen weitere Fälle ans Licht.

Klinikum Delmenhorst (Foto: dpa)
Am Klinikum Delmenhorst hat der Pfleger gearbeitetBild: picture-alliance/dpa/Ingo Wagner

Vorläufige Konsequenzen

Der Fall Niels H. hat inzwischen auch die politische Ebene erreicht. Der niedersächsische Landtag hat Mitte Februar einen Sonderausschuss zur Patientensicherheit eingesetzt. Die Landesregierung will in jedem Krankenhaus Patientenbeauftragte einsetzen. Zudem laufen Gespräche mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe darüber, wie man in ganz Deutschland künftig bessere Vorkehrungen gegen Serienmorde in Krankenhäusern treffen kann.

Als einen zentralen Punkt dabei sieht Professorin Christel Bienstein "die Schaffung einer offenen Fehlerkultur. Nur wenn über Vorkommnisse gesprochen werden kann, wenn Kolleginnen und Kollegen aufeinander achten, den Mut haben, nach nicht zu billigendem Verhalten gegenüber Patienten die Kolleginn oder den Kollegen darauf anzusprechen und nicht mit Schweigen oder Wegsehen darauf reagieren, kann mehr Sicherheit geschaffen werden."

Friedhof in Delmenhorst (Foto: dpa)
Exhumierungen wird es auch in Delmenhorst gebenBild: picture-alliance/dpa/I. Wagner

Die Ermittlungen der Soko Kardio, die im November 2014 gegründet wurde, laufen auf Hochtouren. Erst jetzt wird umfassend untersucht, was in den Krankenhäusern von Oldenburg und Delmenhorst wirklich geschah. Friedhöfe sollen auf mögliche Beweise überprüft werden. Die ersten acht Exhumierungen finden im März statt. Weitere sollen folgen. Insgesamt könnten mehr als 100 Leichen ausgegraben werden. Danach sollen Rechtsmediziner die sterblichen Überreste auf Spuren eines Herzmedikaments untersuchen.

Zunehmend unter Druck gerät auch die Staatsanwaltschaft Oldenburg. Erst vor kurzem entschuldigt sich der stellvertretende Leitende Oberstaatsanwalt Thomas Sander bei den Angehörigen für "Pannen und Verzögerungen" in den Ermittlungen, "die so nicht hätten passieren dürfen". Gegen zwei ehemalige Staatsanwälte wird deshalb ermittelt. Und Sander verspricht: "Wir wollen versuchen, das Treiben des Herrn H. jetzt voll umfänglich aufzuklären."

Doch ob die gesamte Mordserie jemals geklärt wird, ist fraglich. Insgesamt gab es während der Beschäftigungszeit von Niels H. auf der Intensivstation in Delmenhorst 411 Sterbefälle, 321 davon während seiner Schicht oder unmittelbar im Anschluss. Von diesen 321 Menschen wurden 191 erdbestattet. Die restlichen wurden eingeäschert. Ihr Tod lässt sich nicht mehr untersuchen. Wie viele Menschen er tatsächlich auf dem Gewissen hat - das weiß nur Niels H. selbst.