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Glaube

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

10. Juli 2021

Immer wieder sind wir aufgefordert, aus unserem wohlbekannten Alltag herauszutreten, gewonnene Sicherheiten zu verlassen und darauf zu vertrauen, dass alles gut geht.

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BdT Ölleinblüte im Spreewald
Bild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

„Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“ – Moment mal!? Heißt das Sprichwort nicht „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“? In einer Bahnhofsbuchhandlung fällt mein Blick auf ein Buch mit genau diesem Titel: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Ich bin in Eile, kann mir das Buch weder ausführlich anschauen noch kaufen, aber der Blick auf den Klappentext verrät mir, dass die Autorin Verena Bentele von Geburt an blind ist. Blind und eine Ausnahmesportlerin im Skisport. Ich staune einen Augenblick lang über das Leben der mehrfachen Goldmedaillengewinnerin. Aber dann geht es schnell weiter, mein Zug wartet schließlich nicht.

Der Titel geht mir lange nach. Ich fühle mich irgendwie ertappt. Denn ich gehöre zu den Menschen, die Kontrolle schätzen. Und wenn ich ehrlich bin, dann schätze ich sie vor allem dann, wenn sie bei mir liegt, wenn ich die Fäden selbst in der Hand halte.

Seit über einem Jahr prägt eine Pandemie unser Leben. Ein Virus, etwas so Kleines, das für unsere Augen nicht einmal sichtbar ist, hat tatsächlich die Führung übernommen. Der fast verzweifelte kollektive Versuch, die Kontrolle wieder zu gewinnen, hat unser Leben in diesen Monaten bestimmt. Lockdown, Homeoffice, Kontakte einschränken, Masken tragen usw. – alles, um die Fäden in der Hand zu halten. Um sich und andere nicht zu gefährden. Die getroffenen Maßnahmen konnten Leid nicht verhindern, aber sie haben geholfen. Die Inzidenzzahlen sind gesunken, viele Ansteckungen konnten verhindert werden. Man sieht einmal mehr: Kontrolle ist gut. Manchmal rettet sie sogar Leben.

Und dennoch wächst in mir die Ahnung, dass auch in dem zweiten Teil des Satzes etwas Wahres steckt: „Vertrauen ist besser“. Nur, wie sieht dieses Vertrauen aus?

In den USA und langsam auch im deutschsprachigen Raum kommt die Rede vom „Cave-Syndrom“ auf. Es beschreibt das Phänomen, dass Menschen nach dieser langen Zeit des Rückzuges in den Hochphasen der Pandemie nun trotz sinkender Infektionszahlen und steigender Impfraten die Angst nicht abbauen können und nicht hinausgehen. Sie bleiben in ihrer Höhle (engl. cave). Abgesehen davon, dass dieses Phänomen pathologische Züge annehmen und professionelle Hilfe ratsam sein kann, kommt mir in diesem Zusammenhang die Frage nach der berühmten Angst vor dem ersten Schritt in den Sinn.

Nicht nur in der Pandemie, sondern immer, wenn ich herausgefordert bin Entscheidungen zu treffen, die aus den Sicherheiten meiner Comfort-Zone herausführen, dann wird diese Angst vor dem ersten Schritt greifbar. Denn ich weiß nie zu 100% was mich erwartet. Manchmal geht ein intensiver Entscheidungsprozess voraus. Etwa bei einem Jobwechsel. Dann versuche ich alle Eventualitäten auszuloten, um mit aller Kraft die Kontrolle zu behalten. Aber wenn es gelingt, wirklich alle Fäden in der Hand zu halten, führt dies vor allem zu einem Ergebnis: Man hat beide Hände voll und wird unbeweglich. Vertrauen bedeutet hier nicht einfach alles loszulassen und mit dem Spruch „Der Herr wird es schon richten“ loszugehen, sondern sehenden Auges zu akzeptieren, dass ich nie für alles vorsorgen kann, nicht alles kontrollieren kann. Es braucht Vertrauen darauf, dass ich einen Weg finden werde, um auch mit dem Unvorhersehbaren umzugehen. Vertrauen darauf, dass mir Menschen an die Seite gestellt werden, die mich stützen und ich den Mut habe um Hilfe zu bitten. Nur mit diesem Funken Vertrauen, so klein er auch sein mag, gelingt es mir, den ersten Schritt zu wagen, weil der Punkt kommt, an dem „das Risiko, in der Knospe zu verharren schmerzlicher [wird], als das Risiko zu blühen“ (Anaïs Nin).

„Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“ Die Welt rauscht am Zugfenster vorbei und mir kommt der Gedanke, dass ich diesen Satz für mein Leben gerne umschreiben möchte: „Kontrolle ist gut, und mit Vertrauen noch viel besser.“

Ich blicke aus dem Zugfenster auf die Weite der Felder und bin dankbar dafür, dass mir bei meiner letzten Entscheidung bewusst wurde, dass ein starker Funke Vertrauen darin gründet, dass ich von Gott geliebt bin. Hier bin ich längst erkannt, bin angenommen wie ich bin, nicht so wie ich gern sein würde – mit allen Ecken und Kanten hat jemand zu mir Ja gesagt. Mit IHM an meiner Seite kann ich die Grenzen des Kontrollierbaren aushalten und Vertrauen wagen.

 

Sr. M. Philippa Haase OSF, Franziskusschwester von Vierzehnheiligen und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik, Universität Würzburg