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Kommentar: Wahl ohne Wähler

Ute Schaeffer15. Juni 2004

In den neuen Mitgliedsstaaten der EU interessiert sich nur eine Minderheit für die Wahl zum Europa-Parlament. Ute Schaeffer kommentiert.

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Das ist schon paradox: Ausgerechnet in den Staaten, in denen die Menschen am 1. Mai 2004 begeistert ihren EU-Beitritt gefeiert hatten, war die Wahlbeteiligung am niedrigsten. Die EU-Kommission sieht das mit Sorge. Mit Recht - denn wenn das Straßburger Parlament nicht von einer klaren Mehrheit der inzwischen knapp 350 Millionen Menschen in den 25 Mitgliedstaaten gewählt wird, dann
ist seine Legitimation dünn.

Zum Teil ist das Problem hausgemacht: Denn in allen Staaten der Europäischen Union zogen die Kandidaten vor allem mit nationalen Themen in den Wahlkampf. Wer mit Parolen wie "Unsere Wahl ist Polen!" in einen europäischen Wahlkampf zieht und ausschließlich nationale Interessen im Europa-Parlament vertreten will, der steht zwar nicht für die Europäische Idee, kann aber Stimmen verbuchen. Ein solcher Wahlkampf stößt bei den Menschen in den neuen Beitrittsländern auf offene Ohren.

Europa ist, was bei den Menschen ankommt - und das ist nicht eben viel, jedenfalls empfindet es die Mehrheit so. Die Menschen in Polen oder in Tschechien sind verunsichert durch verzögerte Agrar-Subventionen, undiplomatische Maßregelungen aus Paris oder Berlin, Einschränkungen bei der Berufsausübung in Europa.

Europa - das ist für die meisten weit weg und dort regiert man an den Interessen der Menschen vorbei. Ein Gefühl im übrigen, was auch die Wähler in den alten EU-Staaten offensichtlich kennen, denn immerhin lag auch hier die Wahlbeteiligung auf einem historischen Tiefstand.

Zudem war diese Wahl - in allen Staaten der Europäischen Union ob neu oder alt - vor allem eine Abrechnung mit der nationalen Regierungspolitik. So konnte die bürgerliche Regierungskoalition in Estland keinen einzigen Sitz im Europa-Parlament erringen. Die regierenden litauischen Sozialdemokraten kamen nur auf Platz zwei, hinter der linkspopulistischen Arbeitspartei des russischstämmigen Millionärs Viktor Uspaskitsch. In Lettland konnten die Regierungsparteien nur eines von neun Mandaten erlangen. Und auch in Ungarn und Slowenien siegten konservative
Oppositionsparteien. In Tschechien landete die regierende
sozialdemokratische Partei abgeschlagen auf dem fünften Platz.

Der eigentliche Gewinner der Europawahl - und auch das ist paradox - sind erklärte Europa-Gegner und nationale Populisten. Sie werden nun vor allem Abgeordnete in das Straßburger Parlament entsenden. Doch wie diese dort konstruktiv europäische Politik mitgestalten wollen, das steht auf einem anderen Blatt. Mit den neuen Mitgliedern hat die Europäische Union zudem Staaten hinzugewonnen, in denen die Demokratie noch keine lange Tradition hat, in denen die Zivilgesellschaft im Aufbau ist und politische Partizipation keine Selbstverständlichkeit für jeden. Die Wahlbeteiligung liegt dort auch bei nationalen Wahlen oft unter 50 Prozent.

Eins hat die Wahl gezeigt: Die euroromantische Periode bei den Neu-Mitgliedern ist vorbei. Europa steht nicht ohne weiteres für Freiheit, Demokratie, Toleranz, partnerschaftliche Solidarität über Ländergrenzen hinweg. Für viele Menschen in den östlichen EU-Staaten steht Europa für Regelungswut, Technokratie, Intransparenz und Dominanz der Starken über die Schwachen.

Um das zu ändern, hat die Europäische Union und die politische Elite bei den Neumitgliedern künftig viel zu tun. Europa muss für sich werben, europäische Politik muss vor Ort spürbar sein und dort den Menschen erklärt werden - damit nicht Realität wird, was nicht nur unter den östlichen EU-Staaten ein Schreckgespenst ist: Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten - und ohne Rückhalt im Volk.