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Europas Nationalstaaten unter Druck

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
22. August 2015

Die Menge der Flüchtlinge wird die europäischen Lebensgewohnheiten massiv in Frage stellen. Vor allem die Tradition des Nationalstaats wird sich verändern, meint Kersten Knipp. Doch zum Glück sind Traditionen flexibel.

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Flüchtlinge im Bahnhof von Gevgelija in Mazedonien 15.08.2015 (Foto: Reuters)
Flüchtlinge im Bahnhof von Gevgelija in Mazedonien kämpfen um Plätze in einem Zug Richtung NordenBild: Reuters/S. Nenov

Wer Menschen, die sich nicht kennen und nichts mit einander zu tun haben, füreinander interessieren will, muss sich etwas einfallen lassen. Denn die meisten Menschen leben gern in überschaubaren Kreisen. Die Familie, das Dorf, die Provinz: Alles, was darüber hinausgeht, ist für sie ziemlich weit weg. Das mussten auch jene deutschen Politiker erfahren, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts daranmachten, die deutschen Fürstentümer zu einem übergreifenden Verbund, einem deutschen Nationalstaat zusammenzubinden. Die meisten ihrer Landsleute, stellten sie fest, konnten mit der Idee eines vereinten Deutschlands nicht viel anfangen.

Erfundene Traditionen

Doch die Einheit war gewünscht. Und damit waren auch die Dichter gefordert. Sie schufen erbauliche Versen und Strophen, die dem Volk ein Gefühl für die neue deutsche Einheit vermitteln sollten. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb 1841 das "Lied der Deutschen", dessen dritte Strophe bis heute den Text der deutschen Nationalhymne bildet. Autoren wie Achim von Arnim oder Clemens Brentano schufen eingängige "Volkslieder". Und das Frankfurter Schützenfest von 1862 erinnerte die Besucher unübersehbar an das eigentliche Anliegen der Veranstaltung: "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern" stand in großen Lettern über dem Eingang zu lesen.

Moderne Historiker haben dieses Sammelsurium an Gedichten, Liedern, Erzählungen als "invented traditions", "erfundene Traditionen", bezeichnet. Traditionen also, die entgegen der allgemeinen Überzeugung nicht in die Tiefen der Zeit zurückreichen, sondern reine Kunstschöpfungen sind - entworfen, um die jungen Nationalstaaten in den Herzen der Menschen zu verankern. Das Projekt ging auf: Selbst die Menschen aus der Provinz sahen sich mit einem Mal als Franzosen, Italiener, Polen, Rumänen oder Deutsche. Seit über 150 Jahren singen sie ihre Lieder und schwingen ihre Fahnen. Und seit einigen Jahrzehnten feuern sie bei Europa- und Weltmeisterschaften ihre jeweiligen Nationalmannschaften an.

Knipp Kersten (Foto: DW)
DW-Redakteur Kersten Knipp

Seit langem haben die Europäer zu ihren jeweiligen Nationalstaaten also auch gefühlsmäßige Bindungen entwickelt. Die europäischen Eliten mögen sich in der globalisierten Welt längst eingerichtet haben. Aber die meisten definieren sich in erster Linie immer noch über ihr Land. Erst dann kommt Europa, und danach die Welt.

Unterschiedliche Traditionen

Was wir derzeit aber erleben, fordert diese Gewohnheiten auf nie dagewesene Weise heraus. Lampedusa, Kos, seit einigen Tagen Mazedonien: Tag für Tag sehen wir Wanderungsbewegungen, die die europäischen Nationalstaaten auf grundlegende Weise verändern werden - und damit auch die Lebensumstände, in denen sich Generationen von Europäern ganz selbstverständlich bewegt haben und weiter bewegen.

Natürlich hat es auch in der Vergangenheit immer schon Migration gegeben. Ohnehin ist Migration ein Kennzeichen entwickelter Gesellschaften. Aber bislang verlief sie in viel kleineren Dimensionen. Eine Ausnahme waren die Wanderungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber sie verliefen innerhalb Europas, also in einem kulturell mehr oder minder homogenen Raum.

Nun aber kommen die Menschen in goßer Zahl und aus ganz anderen Weltgegenden. Sie haben teils ganz andere Erfahrungen, Kulturen, Überzeugungen im Gepäck. Und die bisherigen Erfahrungen - beispielsweise die Diskussionen um das Tragen von Kopftüchern, den gemischtgeschlechtlichen Sportunterricht, das Schächten - haben gezeigt, dass diese sich nicht ohne weiteres mit den europäischen Traditionen verknüpfen lassen.

Sorgen, nicht Rassismus

Über die Ängste, Sorgen und teils auch den Unmut, den viele Europäer angesichts der derzeitigen Zahl von ankommenden Flüchtlingen empfinden, braucht man sich darum nicht zu wundern. Doch man sollte sich hüten, dies pauschal als Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus zu verdammen. Natürlich gibt es Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Aber nicht jedes Zögern, jede abwehrende Haltung muss Zeichen einer finsteren Gesinnung sein.

Denn eine Veränderung vertrauter Lebensumstände, wie sie die nun einsetzende Massenmigration nach Europa mit sich bringt, ist keine Kleinigkeit - weder für die Zuwanderer noch für die aufnehmenden Gesellschaften.

Chancen des Wandels

Gerade das Phänomen der "erfundenen Traditionen" zeigt aber, dass ein gelingendes Zusammenleben durchaus möglich ist. Wieder wird es Dichter und Künstler brauchen, die den nun entstehenden multikulturellen Gesellschaften ein neues Selbstverständnis vermitteln, eine Art Gründungsmythos, der hinreichend stark ist, die unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzubinden.

Gesellschaften - das haben die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts gezeigt - sind hochgradig flexible Gebilde, die sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Nur geht das nicht von heute auf morgen. Und es geht auch nicht in unbegrenzten Dimensionen. So hässlich es ist: Der Zuzug muss begrenzt und gesteuert werden. Dies zu fordern, heißt nicht, dem Rassismus das Wort zu reden. Sondern der geordneten Verwandlung Europas und seiner Nationalstaaten.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika