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Gesellschaft

Ein Spiegelbild Deutschlands

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Jens Thurau
25. Juni 2018

Auf verblüffende Art und Weise steht die Fußball-Nationalmannschaft stets für das gerade herrschende gesellschaftliche Klima. Und deshalb ist uns dieses Team so nah, im Positiven wie im Negativen, meint Jens Thurau.

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WM 2018 - Deutschland - Schweden
Die deutsche Mannschaft vor dem Spiel gegen Schweden, das sie erst in den letzten Sekunden gewinnen konnteBild: picture-alliance/dpa/A.Gebert

Toni Kroos, der Kunstschütze vom Samstag, der stille und coole Weltbürger aus Greifswald, der in Madrid lebt, hat es nach dem Schweden-Spiel gesagt: "Ich hatte das Gefühl, viele Leute in Deutschland hätte gefreut, wenn wir heute ausgeschieden wären." Das klingt wie eine Kampfansage.

Vor allem aber ist es eine richtige Beobachtung. Denn so zerrissen ist das Land, dass sich die Deutschen nicht einmal auf ihre Mannschaft einigen können. Für die Rechtspopulisten von der AfD spielen zu viele Muslime und Schwarze mit, und Spieler mit türkischen Wurzeln machen - gewollt oder ungewollt - Wahlwerbung für den Autokraten Erdogan. Und bringen damit auch Wohlmeinende gegen sich auf. Deutschland im Jahr 2018.

Wirtschaftswunder - Der Außenseiter wird Weltmeister

Die Mannschaft und das Land - das verhielt sich schon immer spiegelbildlich. 1954 waren die Deutschen Außenseiter, wie die ganze Bundesrepublik. Eine Truppe von Kriegskindern und -heimkehrern schlägt im Endspiel in Bern die Ungarn, das große Team dieser Epoche. Im Kopf bleibt das Bild von Kapitän Fritz Walter, wie er demütig und ehrfürchtig den Siegerpokal entgegennimmt. Wir sind wieder da - aber still und friedlich. Lektion gelernt, nie wieder Krieg. Wahrscheinlich war die Verbindung von Mannschaft und Volk nie enger.

Dann, in den Siebzigern: Ein  strahlender Europameister 1972, ein Symbol des Aufbruchs dieser Jahre. Günter Netzers raumgreifenden Schritte, wehendes Haar. Mehr Demokratie wagen. Aber schon zwei Jahre später quält sich das Team eher zum Weltmeistertitel im eigenen Land. Nach einer Vorbereitung im Zeichen des Links-Terrors, eingesperrt im Trainingslager in Schleswig-Holstein. Netzer verkümmert auf der Bank. In der Vorrunde Niederlage gegen die DDR. Die Revolution ist vorbei.

Nach dem Mauerfall - Auf Jahre unschlagbar?

1990 gewinnt dann das letzte Team der Westdeutschen die Weltmeisterschaft - alles ist jetzt möglich. Wie könnte es auch anders sein, wenn Wunder wie der Mauerfall  passieren? Franz Beckenbauer verkündet, diese Mannschaft sei auf Jahre hin unschlagbar. Ein vorherrschendes Gefühl auch der Deutschen damals. Und doch ein Irrtum. Die Einheit wird beschwerlicher als gedacht, noch einmal wird das Team 1996 Europameister, dann rumpelt und kantet die Mannschaft über Jahre vor sich hin. Wie auch das Land. Ewig zieht sich die Ära Kohl dahin, bis 1998. In den Jahren danach: Eine Auslands-Zeitung nennt Deutschland den "kranken Mann Europas." Der Terror kehrt zurück, diesmal ist er islamistisch. Die Arbeitslosigkeit ist hoch.

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Dann das Sommermärchen 2006. Weltmeisterschaft im eigenen Land. Richtig gute und junge Kicker. Ausgelassen-fröhliche Stimmung, es ist endgültig erlaubt, deutsche Fahnen zu schwingen und die Hymne laut mitzusingen. Spieler mit Wurzeln aus vielen Ländern stehen im Team. Neues, frisches Deutschland, die Wirtschaft brummt. Jeder weiß jetzt, was "public viewing" bedeutet. Nur ein Titel fehlte. Die Krönung kommt acht Jahre später: Mit Spielern namens Boateng, Khedira und Özil gelingt das Meisterstück: 7:1 gegen Brasilien im Halbfinale. Integration ist möglich und erfolgreich. Selfies in der Kabine mit der Kanzlerin. Das neue Deutschland macht sich auf in die Welt,  Berlin wird Touristenmagnet, ist hipp wie nie zuvor. Der Weltmeister wird triumphal in der Hauptstadt empfangen, das Flugzeug ("Siegerflieger") kreist zuvor über der Stadt, für alle erkennbar. Noch ein Jahr bis zum Beginn dessen, was wir heute die "Flüchtlingskrise" nennen. Noch rund zweieinhalb Jahre, bis Donald Trump US-Präsident wird.

Nach der Flüchtlingskrise - Die Mannschaft unter Druck

Und jetzt? Das Team vollzieht mitten im Turnier den Umbruch, nach und nach werden immer mehr der Weltmeister von 2014 in Frage gestellt. In Berlin steht die Kanzlerin so unter Anspannung wie noch nie. Die eigenen Leute laufen gegen sie Sturm. Fröhlich und entspannt wie in Brasilien wirkt auch das Team nicht, die Mannschaft steht unter Druck - ganz offensichtlich. Aber wie sehr sich die Deutschen nach Klarheit sehnen, nach Orientierung in einer unübersichtlichen Welt, macht die Eruption deutlich, die das Kroos-Tor gegen Schweden ausgelöst hat: in letzter Sekunde erzielt, nach Fehlern und Rückschlägen. In Unterzahl. Gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Der Politik ist das gerade abhanden gekommen, der Gesellschaft auch: Dieser Wille, die Dinge zum Guten zu bringen, gegen alle Bedenken, Ängste und Zögerlichkeiten. Es wird viel genörgelt im Land, die Grundstimmung ist aggressiv. Vielleicht nehmen sich Land und Regierung diesmal ein Beispiel am Team.

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