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Kommentar: Deutsche Renten in der Krise

29. Oktober 2003

Die französische Regierung muss mit Briefen für die unbeliebte Rentenreform werben, in Österreich gab es erste landesweite Streiks und auch in Deutschland wächst der Unmut. Karl Zawadzky kommentiert.

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Die Ursachen der Ebbe in den Rentenkassen und die Rezepte zur Lösung des Problems unterscheiden sich in den westeuropäischen Ländern nicht weit von einander. In allen diesen Ländern nehmen seit Jahrzehnten die Zahlen der Kinder und die der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ab - und die der Rentner zu. Wurden zum Beispiel in Deutschland in den sechziger Jahren noch etwa 90 Prozent der Kinder geboren, die zur dauerhaften Stabilisierung der Bevölkerungszahl notwendig sind, so sind es heute nur noch 65 Prozent. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, daß die deutsche Bevölkerung bis zum Jahr 2040 um zehn Millionen Menschen abnimmt. In der Bevölkerungspyramide finden gewaltige Verschiebungen statt. Am Ende wird sie auf dem Kopf stehen.


Die Konsequenz: Immer weniger Deutsche im erwerbsfähigen Alter müssen immer mehr alten Menschen den Lebensunterhalt finanzieren. Denn die Beiträge eines Monats werden im Umlageverfahren bereits im Monat darauf für die Finanzierung der laufenden Renten wieder ausgezahlt. Dabei geht es um viel Geld, nämlich um mehr als 16 Milliarden Euro pro Monat. Im Ergebnis muss entweder der Rentenbeitrag steigen, oder aber die Renten müssen niedriger ausfallen. Alternativ kann auch die Lebensarbeitszeit verlängert werden. Der erste landesweite Streik seit mehr als fünfzig Jahren in Österreich zeigt, was passieren kann, wenn mit der unumgänglichen Anpassung des Rentensystems an die Veränderungen in der Alterspyramide nicht sensibel genug umgegangen wird.


Den in das Rentensystem einzahlenden Arbeitnehmern muss die Notwendigkeit der tiefen Einschnitte deutlich werden, sonst machen sie nicht mit. Schließlich haben sie über viele Jahre in die Rentenkassen eingezahlt und sollen schlechter gestellt werden als diejenigen, die sich bislang auf recht großzügige Weise sogar vorzeitig auf's Altenteil verabschieden können. Doch an den Änderungen führt kein Weg vorbei, denn die ausufernden Sozialbeiträge sind nicht länger finanzierbar. Sie überfordern selbst leistungsfähige Volkswirtschaften. Die Politik hat mehr versprochen als sie halten kann; nun werden die europäischen Sozialstaaten von der Realität eingeholt.


Einschnitte sind auch in Deutschland unumgänglich, soll nicht der Beitrag stetig ansteigen, was die Kaufkraft der Arbeitnehmer verringern und die Lohnnebenkosten der Betriebe in die Höhe treiben würde. Für Konjunktur und Wirtschaftsstandort sind die Soziallasten eine schwere Bürde. Seit Jahren versucht die Bundesregierung, den sogenannten Gesamtsozialversicherungsbeitrag unter die 40-Prozent-Grenze zu drücken, doch tatsächlich droht ein Anstieg von 42 auf 43 Prozent. Der Ausweg über den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung ist versperrt. Schließlich ist er bereits mit rund 80 Milliarden Euro der größte einzelne Ausgabenblock im Etat.


Ohne eine Reform der sozialen Sicherungssysteme droht eine Überforderung der wirtschaftlich aktiven Generation sowie der hälftig am Beitrag beteiligten Betriebe - und am Ende Arbeitsplatzvernichtung. Das ist im Prinzip in Deutschland nicht anders als in Frankreich oder Österreich. Zum Beispiel ist hier zu Lande der Rentenbeitrag erst Anfang dieses Jahres von 19,1 auf 19,5 Prozent angehoben worden; für das kommende Jahr droht ein Anstieg auf 19,8 Prozent. Bei weiterhin schlechter Konjunkturentwicklung und hoher Arbeitslosigkeit könnten es auch zwanzig Prozent werden.


Es ist unumgänglich, in einem ersten Schritt die seit vielen Jahren laufende Frühverrentung zu beenden und das faktische Rentenalter an die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren anzugleichen - oder aber die Abschläge in Fällen von vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben heraufzusetzen. Diese Forderung mag in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit absurd erscheinen, aber die Frühverrentung als Entlastung des Arbeitsmarktes war ein Irrweg. In einigen Jahren werden den Betrieben qualifizierte Beschäftigte fehlen. Die Deutschen müssen wie die Österreicher oder Franzosen länger arbeiten oder aber beim vorzeitigen Ausstieg aus dem Job mit weniger Rente auskommen.