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Protektionismus oder Kampf gegen Sklavenarbeit?

Boehme Henrik Kommentarbild App
Henrik Böhme
9. Juli 2020

Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen. Dem hat das EU-Parlament einen Riegel vorgeschoben. Aber (noch) nicht für die Fleischindustrie, sondern für die Fernfahrer. Eine umstrittene Blaupause, meint Henrik Böhme.

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LKW Parkplatz
Bild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Viel war in den vergangenen Wochen von den Zuständen in deutschen Fleischfabriken die Rede. Vieles, was man lange wusste oder zu wissen glaubte, brachte uns die Corona-Pandemie in aller Härte ins Gedächtnis zurück: Knochenarbeit für einen miesen Lohn, Massenunterkünfte fern irgendwelcher hygienischer Standards. Betroffen vor allem Arbeitskräfte aus Osteuropa, die meisten von ihnen aus Rumänien und Bulgarien. Von moderner Sklaverei inmitten Europas ist die Rede.

Um die Abschaffung "moderner Sklaverei" in einer anderen Branche wurde auf europäischer Ebene drei Jahre gestritten. Jedenfalls hatte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für diese Wortwahl entscheiden, als man in den Kampf zog um faire Arbeitsbedingungen für die mehr als dreieinhalb Millionen Lkw-Fahrer auf Europas Straßen. Jetzt scheint dieser Kampf entschieden, jedenfalls hat das Europäische Parlament jetzt den Weg für neue Regeln in der Fernverkehrs-Branche endgültig freigemacht.

Handfester Streit

Wer nun aber denkt: Bessere Arbeitsbedingungen für die (zumeist) Männer hinter dem Steuer, da sind doch alle dafür - der liegt komplett falsch. Seit die EU-Kommission im Frühjahr des Jahres 2017 ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt hatte, entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Mitgliedsstaaten der Union. Die Frontlinie verlief vor allem zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten auf der einen und osteuropäischen sowie baltischen Staaten auf der anderen Seite. Unter anderem Polen, Bulgarien und Litauen warfen ihren Nachbarn im Westen vor, vor allem die eigenen Logistik-Unternehmen schützen zu wollen - sprich Protektionismus zu betreiben. Die so Gescholtenen argumentierten hingegen, es gehe um unfairen Wettbewerb durch Lohndumping im Speditionsgewerbe, betrieben vor allem durch osteuropäische Firmen.

Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion
Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion

Wie verzwickt die Lage ist, wird klar, wenn man sieht, dass freilich auch Speditionen aus Westeuropa in Bulgarien oder Rumänien Tochterfirmen gründeten, um dann ihr Personal zu den in diesen Ländern üblichen Löhnen auf die Reise zu schicken.  

Die Sache hat eine gewaltige Dimension. Denn über 70 Prozent des Lkw-Verkehrs in Europa wird von Osteuropäern bewältigt, belegen Zahlen der Europäischen Statistikbehörde Eurostat. Wenn also jetzt einigermaßen "faire" Löhne gezahlt werden sollen, dann können das in der Tat viele osteuropäische Unternehmen nicht leisten. Dann würde der bulgarische (oder rumänische oder lettische) Trucker zwar aus der "Sklaverei" befreit - seinen Job hätte er gleichwohl verloren. Das erklärt den heftigen Widerstand der Osteuropäer gegen die neuen Regeln. 

"Ausflaggen" Richtung Osteuropa

Dass aber etwas geschehen muss mit den Arbeitsbedingungen auf Europas Landstraßen und Autobahnen, macht der schreckliche Vorfall aus dem Herbst des vergangenen Jahres deutlich, als nahe London 39 Leichen in einem Container-Lkw mit bulgarischen Kennzeichen gefunden wurden. Auf eine mögliche bulgarische Mitverantwortung angesprochen, antwortete der Ministerpräsident des Landes, der Lkw sei seit seiner Registrierung 2017 nie wieder in Bulgarien gewesen.

So ist es wie auf hoher See, wo die allermeisten Schiffe unter den Flaggen irgendwelcher Steueroasen fahren. Auf Europas Straßen wird ebenso "ausgeflaggt", nur eben Richtung Osteuropa. Ja, man könnte es Protektionismus nennen. Aber wichtiger ist es, die unsäglichen Arbeitsbedingungen dieser neuzeitlichen Nomaden zu verbessern. Auch wenn einige osteuropäische Staaten schon angekündigt haben, gegen die neuen Regeln klagen zu wollen: Es braucht bessere Arbeitsstandards für die Fernfahrer und eine bessere Bezahlung. Wenn es in dieser Branche nicht funktioniert, dann wird es auch nicht in der Fleischindustrie funktionieren.

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Henrik Böhme Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Auto- und Finanzbranche@Henrik58