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Kohle bei der Manifesta 9

Sabine Oelze11. Juni 2012

Die Manifesta zählt neben der Documenta in Kassel und der Biennale in Venedig zu Europas Kunsthöhepunkten. Sie findet alle zwei Jahre an anderem Ausstellungsort statt. Derzeit macht sie in Belgien Station.

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Förderturm in der belgischen Stadt Genk
Manifesta 9 Kunstmesse Belgien GenkBild: DW

Eva Gronbachs Röhrenjeans hat echte Ruhrpott-Patina. Die beige-graue Hose wurde im vergangenen Jahrhundert von einem Kumpel unter Tage getragen. Die Modemacherin aus Köln recycelt Uniformen von Bergarbeitern des Ruhrgebiets, die darin jahrelang malocht haben und macht sie fit für den Laufsteg. german-jeans heißt die Kollektion, die sie auf der Manifesta 9 in Genk vorstellt. Eva Gronbach sieht sie als Metapher für einen allgegenwärtigen Transformationsprozess. Von der körperlichen zur geistigen Arbeit, von der Massenproduktion zur individuellen Fertigung, von einer patriarchalen zu einer matriarchalen Gesellschaftsstruktur.

Mode verbindet Vergangenheit und Gegenwart

Eva Gronbachs german-jeans treffen den Nerv der Manifesta 9. Auf 25.000 Quadratmetern der ehemaligen Kohlen-Zeche Waterschei erforscht die Wander-Biennale bis zum 30. September 2012, wie sich der Wandel des Industriezeitalters auf die Lebensbedingungen der Menschen bis heute auswirkt.

Eva Gronbachs Skulptur heißt "Vom Dunkel ins Licht"
Eva Gronbachs Skulptur heißt "Vom Dunkel ins Licht"Bild: DW

Das 65.000 Einwohner zählende Genk ist dafür die ideale Kulisse. Die drittgrößte Stadt Belgiens erfuhr ein ganz ähnliches Schicksal wie die deutschen Städte im gerade mal 100 Kilometer entfernten Ruhrgebiet: Um 1900 wurde in Genk Kohle gefunden. Fortan stand das Leben im Schatten der Fördertürme im Zeichen harter Arbeit. Mehr als 32 Nationen ließen sich in den Hochzeiten in Genk nieder. 1987 wurden die Fördertürme still gelegt. Die imposanten Überbleibsel der Waterschei-Mine sind ein Zeugnis der wechselvollen Geschichte.

Kunst kommt von Kohle

Die Spezialität der Manifesta der letzten 15 Jahren war es, Europa und seine verändernde Gesellschaft zu erkunden. Rotterdam, Luxemburg, Ljubljana oder Murcía, wo vor zwei Jahren auch ein Gefängnis als Ausstellungsort diente, waren einige Stationen der Vergangenheit. Damit die Kunst in Genk nicht im luftleeren Raum hängt, tastet sich die Manifesta auf einer ganzen Etage mit Hilfe von kulturhistorischen Dokumenten an die Zeit der Schwerindustrie heran. In einer Vitrine sind Ausweise von Kindern zu sehen, die in der nahegelegenen Zeche von Bois du Luc ins Bergwerk einfuhren. 85 Jungen und Mädchen unter acht Jahren malochten unter Tage. Mehrere Tausend waren es bis zu ihrem 14. Lebensjahr. Aber es gibt auch stolze Arbeiter. Sie schlossen sich zu Malerschulen zusammen, um in anrührenden Zeichnungen ihr Leben zu dokumentieren.

Außen renoviert, innen heruntergekommen: Die Waterschei-Mine
Außen renoviert, innen heruntergekommen: Die Waterschei-MineBild: DW

Genk ist für die Kuratoren der Manifesta 9, Katerina Gregos und Cuauhtémoc Medina und Dawn Ades, ein Mikrokosmos für den Umbruch in Europa, wo Kohle als Brennstoff an Bedeutung verloren hat, wo Banken- und Finanzkrise den Wohlfahrtsstaat an die Grenzen der Belastbarkeit treiben.

Tierische Massenproduktion

Da kommt die Installation des in Köln lebenden Ecuadorianers Kuai Shen geradezu wie ein Vorbild selbstlosen Sozialverhaltens daher. In einer Apparatur aus Glasbehältern, die an eine überdimensionale Versuchsanordnung aus dem Chemieunterricht erinnert, lassen sich Blattschneideameisen bei der Arbeit aus nächster Nähe begutachten. Seit vier Jahren beobachtet Kuai Shen die emsige Kolonie, die er selbst gezüchtet hat. Blattschneideameisen haben einen geradezu mustergültigen Gemeinsinn. Sie schneiden Blätter, um einen Pilz zu ernähren, der wiederum die Ameisen ernährt. Die perfekte Symbiose. Die Geräusche, die bei dieser Arbeit entstehen, dringen über Lautsprecher in den Ausstellungsraum. Für Kuai Shen sind die Ameisen ein Modell für die Krise in Europa: "Wir brauchen nicht mehr eine Gesellschaft, die wie eine Pyramide aufgebaut ist. Wir müssen Gemeinschaft neu definieren, um überleben zu können", sagt der Künstler.

Auch Kunst: Das Sozialverhalten von Blattschneideameisen
Auch Kunst: Das Sozialverhalten von BlattschneideameisenBild: DW

Produktion und Arbeit

Auf zwei weiteren Etagen zündet die Manifesta ihr künstlerisches Feuerwerk, das sich vor allem mit den ökonomischen Umstrukturierungen unseres Produktionssystems befasst. Die Künstler kommen aus der ganzen Welt. Eine eigene Abteilung widmet sich der Kunstgeschichte der Steinkohle von 1800 bis ins frühe 21. Jahrhundert. Bernd und Hilla Bechers menschenleere Fotografie-Reihen von Zechen dokumentieren die Funktionalität der Architekturen imposanter Anlagen in Belgien. Alle Arbeiten sollen mit dem Ausstellungsort und seiner Geschichte in Dialog treten. Das gilt für den Bergbaustollen dargestellt als Hölle genauso wie für das eigene Genre der Umweltverschmutzung durch die Schwerindustrie.

Düstere Industrieatmosphäre

Die Manifesta 9 entzieht sich dem schicken Event-Zirkus des Kunstbetriebs. Sie liefert kein neues Futter für den gefräßigen Sammlermarkt. Ob die Re-Inszenierung von Marcel Duchamps Kohlesäcken, die wie düstere Wolken über den Köpfen der Besucher von der Decke hängen, Richard Longs dunkler Kohlenteppich, oder die Recherche der Österreicherin Aglaia Konrad zur Geschichte der Frankfurter Küche und der Rolle der Frau in der Massenproduktion - zu keinem Augenblick lässt die Manifesta ihr Thema aus dem Blick. Die Kohle als fossiler Brennstoff hat ausgedient, dafür befeuert sie die Kunst und zeigt in Genk welch künstlerisches Potential in ihr steckt, um über unser Leben heute nachzudenken.

Richard Long: "Bolivian Coal Line"
Richard Long: "Bolivian Coal Line"Bild: DW