Klein, aber fein: das Reclam-Museum
Weltliteratur im handlichen Format: Seit über 150 Jahren kaufen nicht nur Schüler und Studenten die günstigen Reclam-Hefte. Einen Überblick über ihre Geschichte bekommt man in einem kleinen Museum in Leipzig.
Generationen deutscher Schüler* und Studenten kennen sie aus dem Deutschunterricht: die kleinen gelben Hefte der Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags. Wenn Goethes „Faust“ oder Lessings „Nathan der Weise“ im Unterricht anstehen, empfehlen Lehrer auch heute noch den Kauf dieser Heftchen, denn der Preis ist unschlagbar günstig.
Als Anton Philipp Reclam und sein Sohn Hans Heinrich die Reihe 1867 als Bildungsbibliothek einführten, boten sie die Klassiker der deutschen und europäischen Literatur, antike Texte und philosophische Werke an. Die ersten Ausgaben der Reclam-Heftchen maßen damals 10 mal 15,8 Zentimeter und haben sich mit den Jahren kaum vergrößert.
Seit Oktober 2018 lädt das Reclam-Museum in Leipzigs Graphischem Viertel Graphisches Viertel (n., nur Singular) ein Stadtteil Leipzigs in der Nähe der Innenstadt Liebhaber der Hefte und ihrer vielfältigen ‚Geschwister‘ (etwa in Rot oder Magenta Magenta (n., nur Singular) ein rotblauer Farbton ) zum Besuch ein. Wer in die Ausstellungsräume in der Kreuzstraße 12 möchte, muss erst mal ein paar Stufen abwärts ins Souterrain Souterrain, -s (n., aus dem Französischen) Untergeschoss eines Gebäudes gehen. Auf 50 Quadratmetern dreht sich alles um Reclam. Dass er nur so wenig Platz hat für seine ‚Schätzchen‘, ist ein Manko sein umgangssprachlich für: ein Nachteil sein für Museumsleiter Hans-Jochen Marquardt ein Manko ein Manko sein umgangssprachlich für: ein Nachteil sein :
„Das wird überhaupt ’n Problem in der Ausstellung, das weiß ich auch. Die sind viel zu vollgepackt, die Vitrinen, ja. Aber sonst müsste ich auf viel zu Vieles verzichten. Am besten sieht man alles, wenn man sitzt. Das ist wirklich so. Das ist ’n kleines Museum, aber ich sag immer: ‚Besser ’n kleines als keines.“
Der passionierte passioniert leidenschaftlich Sammler möchte alles zeigen, was er über Jahrzehnte zusammengetragen hat – zum Preis, dass die gläsernen Schaukästen, die Vitrinen, sehr vollgepackt sind. Es sind eigentlich zu viele Bücher darin. Allerdings: Anders könnte er eben auch nicht alles aus seiner Sammlung zeigen. Und das ist erstaunlich viel. Wohin man sieht: Reclam-Bücher – Raritäten wie einige der ersten nummerierten Ausgaben von Reclams Universal-Bibliothek Universal-Bibliothek (f., nur Singular) Bezeichnung für die Bücher des Reclam-Verlages , Kurioses wie das Studenten- Liederbuch, das mit Stahlnoppen Stahlnoppe, -n (f.) aus Metall bestehende Erhebung auf einer Oberfläche, die verhindert, dass etwas z. B. den Boden berührt oder verrutscht gegen das Liegen in Bierlachen Lache, -n (f.) eine Ansammlung von wenig Flüssigkeit, die sich um etwas/jemanden herum bildet gewappnet ist, elegant gestaltete Sonderreihen und kostbare Autografe Autograf, -en (n.) eine (meist von einer berühmten Persönlichkeit) handschriftlich verfasste Niederschrift von Thomas Mann und Hermann Hesse.
Ein paar Ohrensessel Ohrensessel, - (m.) ein Sessel mit einer hohen Rückenlehne und seitlich eingearbeiteten Stützen in Kopfhöhe laden zum Schmökern schmökern umgangssprachlich für: in aller Ruhe und entspannter Atmosphäre ein Buch lesen ein, was in diesem Museum ausdrücklich erwünscht ist. Mit mehr als 10.000 Heften gibt es mehr als genug Lesestoff. Ein Drittel der Gesamtproduktion von Reclams Universal-Bibliothek steht – zusätzlich zu den Ausstellungsstücken in den Vitrinen – zum Durchblättern in zwei großen Regalen bereit. Um die Sammlung möglichst komplett zu haben, ist er überall auf der Welt auf Jagd auf Jagd gehen hier umgangssprachlich für: intensiv nach etwas suchen nach den kleinen Heften gegangen auf Jagd gehen hier umgangssprachlich für: intensiv nach etwas suchen , erzählt Hans-Jochen Marquardt:
„Auch gezielt in Städten, in denen mal Deutsch gesprochen wurde: Prag, Budapest oder auch Windhoek in Namibia, also da, wo deutsche Kolonien gewesen sind. Da gibt’s deutsche Altersheime. Da gibt’s also auch Swap Shops, wo man da hingehen kann. Da findet man auch erstaunlicherweise einiges.“
Selbst in Windhoek, der Hauptstadt Namibias, das unter dem Namen „Deutsch-Südwestafrika“ von 1884 bis 1915 unter deutscher Kolonialherrschaft stand, wurde Hans-Jochen Marquardt fündig: in sogenannten „Swap Shops“, einer Art Secondhand-Läden mit gebrauchten Artikeln. Marquardt erzählt, dass er sogar mal in einem Leipziger Antiquariat Antiquariat, -e (n.) ein Geschäft mit alten, manchmal wertvollen Büchern eingeschlossen wurde. Das war mit 14. Die Triebfeder Triebfeder, -n (f.) hier: etwas, das bewirkt, dass jemand etwas tut; die Motivation für ein bestimmtes Handeln dieser Leidenschaft versteckt sich in Hans-Jochen Marquardts Biografie. Sein Vater Hans Marquardt war von 1961 bis 1986 Leiter des Reclam-Verlages in der damaligen DDR. Und so spiegelt die Dauerausstellung im Reclam-Museum auch die besondere Geschichte des seit 1948 zweigeteilten Verlages wider. Die ging erst 2006 mit der Schließung von „Reclam Leipzig“ zu Ende und mit ihr eine Ära Ära, Ären (f.) ein langer Zeitraum, der von jemandem oder durch etwas besonders bestimmt wird , die 1905 mit dem Umzug ins eigens erbaute Verlagsgebäude begann.
Den damals hochmodernen Betrieb beschrieb 1925 der deutsche Journalist Egon Erwin Kisch in seiner Reportage über die Universal-Bibliothek:
„Wir gehen durch […] die Drucksäle, wo dreiundfünfzig Flachdruckmaschinen in Betrieb stehen, an den Apparaten vorbei, die automatisch falzen, heften, schneiden und pressen, durch die Buchbinderwerkstätten, durch die Elektrizitätsanlagen, durch die Tischlerei, in der die Bücherschränke für die Universal-Bibliothek gezimmert werden, durch die Erzeugungsräume für die Bahnhofsautomaten [...].“
Zu den Apparaten, den Maschinen, die für die Herstellung der kleinen Bücher notwendig waren, gehörten unter anderem Flachdruckmaschinen. Beim Flachdruck liegen die zu bedruckenden Seiten auf einer Ebene. Das hat unter anderem den Vorteil, dass in einem Druckvorgang beidseitig bedruckt werden kann, was die Produktion schnell und preiswert macht. Eine weitere Maschine sorgte dann dafür, dass die bedruckten Blätter gefalzt, in der Mitte mit einer Knickkante versehen wurden. Danach wurden sie geheftet, miteinander verbunden, in Form geschnitten und gepresst. Der letzte Schritt war, das Buch zu binden, also mit einem Einband zu versehen und gegebenenfalls künstlerisch zu gestalten.
Hergestellt wurden in dem Betrieb aber auch Bahnhofsautomaten, Buchspender nach dem Vorbild amerikanischer Kaugummiautomaten. Sowohl ein solches Exemplar als auch ein Originalexemplar eines Bücherschranks für die Universal-Bibliothek sind nun wieder in der Kreuzstraße eingezogen. Für Hans-Jochen Marquardt schließt sich damit ein Kreis, denn das Museum liegt direkt gegenüber dem ehemaligen Verlagsgebäude:
„Und da hat man eben diesen Automaten, der im Original 1912 entworfen worden war, und man hat diesen Schrank, der im Original 1910 entworfen worden war. Alles beides da drüben in diesem Gebäude, wie auch all diese Bücher mal da drüben gewesen sind. Und einige davon haben ja die Reise um die Welt gemacht. Bis sonst wohin. Und nun kommen sie im Grunde wieder zurück. Die Aura strahlt ja noch rüber, wenn man so will.“
Das frühere Verlagsgebäude hat nach Ansicht von Hans-Jochen Marquardt nichts von seiner früheren Ausstrahlung, seiner Aura, verloren. Und obwohl das Museum nicht dort untergebracht ist, strahlt dieser Glanz auch auf die gegenüberliegende Straßenseite hinüber. Das Gebäude ist heute – wie die meisten im Graphischen Viertel – elegant renoviert und heißt „Reclam Carrée“. Das Museum im Souterrain steht mit seiner überschaubaren Größe im krassen krass hier umgangssprachlich für: extrem; stark Gegensatz zu den neuen Loft Loft, -s (n., aus dem Englischen) ein großes Büro oder eine große Wohnung in einem Haus, das früher mal ein Fabrikgebäude war -Wohnungen ringsherum. Dem Andenken an Reclams Leipziger Vergangenheit würde man eigentlich mehr Raum wünschen. Doch die schmalen Hefte aus Reclams Universal-Bibliothek beweisen ja immer wieder, dass man auch im kleinen Format wahrhaft groß sein kann.
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*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird manchmal auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.
Klein, aber fein: das Reclam-Museum
Graphisches Viertel (n., nur Singular) — ein Stadtteil Leipzigs in der Nähe der Innenstadt
Magenta (n., nur Singular) — ein rotblauer Farbton
Souterrain, -s (n., aus dem Französischen) — Untergeschoss eines Gebäudes
ein Manko sein — umgangssprachlich für: ein Nachteil sein
Universal-Bibliothek (f., nur Singular) — Bezeichnung für die Bücher des Reclam-Verlages
Stahlnoppe, -n (f.) — aus Metall bestehende Erhebung auf einer Oberfläche, die verhindert, dass etwas z. B. den Boden berührt oder verrutscht
Lache, -n (f.) — eine Ansammlung von wenig Flüssigkeit, die sich um etwas/jemanden herum bildet
Autograf, -en (n.) — eine (meist von einer berühmten Persönlichkeit) handschriftlich verfasste Niederschrift
Ohrensessel, - (m.) — ein Sessel mit einer hohen Rückenlehne und seitlich eingearbeiteten Stützen in Kopfhöhe
schmökern — umgangssprachlich für: in aller Ruhe und entspannter Atmosphäre ein Buch lesen
auf Jagd gehen — hier umgangssprachlich für: intensiv nach etwas suchen
Antiquariat, -e (n.) — ein Geschäft mit alten, manchmal wertvollen Büchern
Triebfeder, -n (f.) — hier: etwas, das bewirkt, dass jemand etwas tut; die Motivation für ein bestimmtes Handeln
Ära, Ären (f.) — ein langer Zeitraum, der von jemandem oder durch etwas besonders bestimmt wird
krass — hier umgangssprachlich für: extrem; stark
Loft, -s (n., aus dem Englischen) — ein großes Büro oder eine große Wohnung in einem Haus, das früher mal ein Fabrikgebäude war
passioniert — leidenschaftlich