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Kirchenasyl als "Zuhause auf Zeit"

30. August 2023

Seit 40 Jahren finden Geflüchtete in Deutschland Schutz vor Abschiebung im Kirchenasyl. Den Impuls dazu gab einst eine Verzweiflungstat in Berlin.

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Deutschland | Grab von Cemal Kemal Altun in Berlin
Bild: Christoph Strack/DW

Diese Tat erschütterte das Land. Ende August 1983 stand der türkische Asylbewerber Cemal Kemal Altun vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin. Das Gericht wollte klären, ob der Flüchtling an die damalige türkische Militärdiktatur ausgeliefert werden könne. Als am zweiten Verhandlungstag die begleitenden Beamten dem 23-Jährigen die Handschellen abgenommen hatten, nahm er Anlauf und sprang aus einem offenen Fenster des Gerichtsgebäudes. Aus der sechsten Etage, 25 Meter tief. Ein Sprung in den Tod (das Titelbild zeigt sein Grab in Berlin-Mariendorf heute). 

Das Gebäude des Oberverwaltungsgerichts in der Berliner Hardenbergstraße gibt es heute nicht mehr. Auf dem Grundstück stehen ein Hotel und ein Weingeschäft. Aber ein auffallender Gedenkstein, an die vier Meter hoch, erinnert seit 1996 an Altun. "Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten", steht unter anderem darauf, in deutscher und türkischer Sprache. Der Stein lässt zwei Hände erkennen, eine Gestalt im Absturz erahnen. Ein Gedenkort für einen Flüchtling. Denn Altuns Tod erschütterte Deutschland. Er war nicht der einzige, der sich aus Angst vor Abschiebung das Leben nahm. Es sind mehr als 100. Aber kein anderer Fall löste solche Debatten aus. 

"Gesellschaftspolitisch engagieren"

Jürgen Quandt hat 1983 das Schicksal Altuns verfolgt. Der heute 79-Jährige war seit 1980 Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde "Zum Heiligen Kreuz" in Berlin-Kreuzberg. In der Gemeinde suchten damals auch Flüchtlinge Hilfe, Menschen aus der Türkei, dem Libanon, den palästinensischen Gebieten. "Wir wollten uns stärker gesellschaftspolitisch engagieren", sagt Quandt der Deutschen Welle. So gab es im Frühjahr 1983 einen Hungerstreik mehrerer Freunde Altuns im Gemeindesaal und der Kirche. 

Gedenkstein, der eine stürzende Person erahnen lässt
Der Gedenkstein für Cemal Kemal Altun in der Nähe des Berliner Bahnhofs ZooBild: Christoph Strack/DW

Einige Wochen nach dem Tod Altuns kamen Flüchtlinge aus den Palästinensergebieten auf den Pfarrer und die Gemeindegremien zu – und baten, aus Angst vor Abschiebung, um Kirchenasyl. Quandt schildert auch heute, dass die Hilfesuchenden ihn auf die Tradition der alten Kirche angesprochen hätten, Schutz und Asyl zu gewähren. Und die Gemeinde gewährte Schutz. Kirchenasyl im Gemeindehaus.

So wurde der Fall Altun zum Beginn von Kirchenasyl in Deutschland. In keinem anderen Land gibt es ein vergleichbares Engagement. Seit 40 Jahren versuchen die Kirchen in Deutschland, Schutz zu gewähren, wenn Geflüchteten die Abschiebung in Gefahrensituation droht. Etlichen tausend Menschen wurde nach Angaben der "Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche" so geholfen. Derzeit, Mitte August, wisse sie von 431 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 655 Personen, davon seien etwa 136 Kinder. 285 Kirchenasyle seien in diesem Jahr bereits beendet worden.

Bärtiger Mann im schwarzen Talar
Pfarrer Gottfried Martens aus Berlin-SteglitzBild: Axel Rowohlt/DW

Einer derer, die Kirchenasyl gewähren, ist Gottfried Martens, Pfarrer der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Berlin. Im Untergeschoss der Dreieinigkeitskirche in Berlin-Steglitz leben derzeit mehrere geflüchtete Iraner, die sich zum christlichen Glauben bekennen. So wie Sasan Rezai. Der gelernte Koch aus dem Nord-Iran flüchtete nach eigenem Bekunden aus seinem Land, weil er sich einer christlichen Hausgemeinde angeschlossen hatte. Er schildert der Deutschen Welle, wie er an der Grenze von Bosnien nach Kroatien nach seiner illegalen Einreise "schwer geschlagen, ohne Trinken und Brot eingesperrt" wurde und nur zu hören bekam "Hau ab aus diesem Land". Rezai spricht von Todesangst. Pfarrer Martens sagt, er erlebe "gestandene Männer, die zitternd wie kleine Kinder hier ankommen, aus Angst davor, wieder abgeschoben zu werden". 

Wenn sich die Angst löst

Rezai sagt, zwei Tage nach seiner Ankunft im Kirchenasyl in Steglitz habe sich seine Angst, sein Stress gelöst. Er wolle das nie mehr erleben. Der 36-jährige lebt nun im Untergeschoss der Kirche. Am Morgen war er lange auf dem Laufband, das die Gemeinde zur Verfügung gestellt hat; denn das Gebäude verlassen darf er derzeit nicht. Später wird er kochen für sich und die anderen Geflüchteten, die derzeit bei Pfarrer Martens leben. 

Junger Mann mit Bart und dunklen Haaren im rötlichen T-Shirt
Rezai Sarai, Flüchtling aus dem Iran, lebt im KirchenasylBild: Christoph Strack/DW

Das Schicksal von Rezai ist typisch für viele der Menschen, die derzeit in Deutschland im Kirchenasyl leben. Und es sagt etwas aus über den gescheiterten Versuch einer europäischen Asylrechts-Regelung. Diverse EU-Länder an den Außengrenzen der EU bieten illegal eingereisten Geflüchteten nach Meinung von Kritikern kein faires Asylverfahren – so wie Kroatien. So ziehen sie weiter, häufig nach Deutschland. Nach den europäischen Asylregelungen müssen Asylverfahren aber in dem EU-Staat entschieden werden, den ein Flüchtling zuerst erreicht. Deutschland dürfte Menschen wie Rezai formell also abschieben. Martens spricht von einer "Dublin-Abschiebung" – denn Deutschland darf in jenes EU-Land abschieben, in dem ein Flüchtling zum ersten Mal registriert wurde. Es sei denn – so sind die Vorgaben derzeit –, dass er seit mindestens sechs Monaten in Deutschland lebt. 

Welche Dimension dieser Aspekt hat, zeigen auch die Zahlen der "Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche". Von den oben erwähnten 431 aktuellen Fällen von Kirchenasyl sind demnach 405 sogenannte "Dublin-Fälle". 

Auch Pfarrer Quandt sieht die aktuelle Herausforderung. "Flüchtlingsschutz ist Ausdruck unseres Glaubens", sagt er der DW. Das sei seit 40 Jahren auch innerkirchlich immer wieder diskutiert worden. Doch die Perspektive des Engagements sei heute anders als 1983. Damals sei es um den Schutz von Flüchtlingen vor Abschiebung in die Herkunftsländer gegangen, was nicht selten einen längeren Aufenthalt in kirchlichen Räumen erforderte. Heute gehe es überwiegend um Schutz vor Rücküberstellung in andere EU-Länder.  

"Ein Zuhause auf Zeit", schrieb ein anderer evangelischer Pfarrer dieser Tage. Dabei bleibt Kirchenasyl immer wieder umstritten. Aus der Politik kommt immer mal wieder der Vorwurf, Gesetze würden missachtet. Seit Jahren gibt es gelegentliche Fälle, in denen Seelsorgerinnen oder Seelsorger oder auch Ordensleute sich für ihr Engagement vor Gericht rechtfertigen müssen. Und zuletzt im Juli räumten Behörden im niederrheinischen Viersen, zwischen Düsseldorf und der niederländischen Grenze gelegen, ein Kirchenasyl in einem evangelischen Gemeindehaus, in dem seit Mai 2023 ein kurdisches Ehepaar lebte. Später verzichtete die Kommune, vielleicht angesichts bundesweiter Empörung, auf die Rückführung des Paares nach Polen. 

Gedenken an Cemal Kemal Altun

Ende August begeht die bundesweite Kirchenasyl-Bewegung in Berlin ihr 40-jähriges Bestehen mit einer Tagung unter dem Titel "Ultima Ratio und widerständige Praxis für das Grundrecht auf Asyl" in Berlin. Das lateinische "Ultima Ratio" heißt "letzter Gedanke", "letztes Mittel". Auf dem Programm steht auch ein Gedenken an Cemal Kemal Altun am Gedenkstein. Altun, dessen letzter Weg der Suizid war. 

Ein startendes Flugzeug, im Vordergrund ein Zaun mit Stacheldraht
Meist führt die Angst vor Abschiebungen Geflüchtete ins KirchenasylBild: Daniel Kubirski/picture alliance

Etwas außerhalb von Kreuzberg, auf dem Dreifaltigkeitskirchhof III in Berlin-Mariendorf, findet sich das Grab des Mannes, der heute 63 wäre. Längst wird dieser Friedhof nicht mehr genutzt, die meisten Gräber aus früheren Jahrzehnten sind bereits verschwunden. Bald wird hier gewiss Bauland sein. Altuns Grab gibt es noch. Dort findet sich ein Bilderrahmen mit seinem Foto, ein halbwelker Blumenstrauß zeigt, dass dieser Ort noch aufgesucht wird.

Eigentlich ist die Geschichte hier vorbei. Aber ein Bild bleibt. Nach dem Gespräch mit Gottfried Martens und Sasan Rezai kommt der Pfarrer noch mal zur Tür. "Erwähnen Sie ruhig noch, dass fünf der zwölf Mitglieder unsere Kirchengemeinderats früher mal bei uns im Kirchenasyl waren", sagt er.

 

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website befrienders.org. In Deutschland finden Sie Hilfe bei der Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.