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"Kinder! macht Neues!"

Dieter David Scholz8. Januar 2002

Dreizehnte und letzte Folge: "Wagner im dritten Jahrtausend - der "Ring 2000" Leitungsfragen, Zukunftsaussichten Bayreuths und Aktualität Wagners

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Der "Fliegenden Holländer", dirigiert von Giuseppe Sinopoli war eine der interessantesten Inszenierungen der letzten 10 Jahre vor dem Jahrtausendwechsel. Dieter Dorn hatte 1990 gemeinsam mit dem Bühnenbildner Jürge Rose einen optisch außerordentlich suggestiven Traum in Szene gesetzt: den Traum vom rastlosen Odysseus auf der Suche nach erlösender Liebe. Mit nie da gewesenen technischen Effekten hebt sich in der Inszenierung die Spinnstube der Mädchen wie von Geisterhand bewegt in den nächtlichen Sternenhimmel und drehte sich vertikal um die eigene Achse. Ein unvergessliches Sinnbild für die von jeglicher Realität abhebende Liebe Sentas und des Holländers.

Auch der vom Dramatiker Heiner Müller 1993 inszenierte "Tristan" bleibt in Erinnerung. Vor allem die magisch-abstrakten, geradezu verstörend unrealistischen Bilder Erich Wonders, auch wenn sie ganz bewusst nicht die Handlung des Musikdramas widerspiegeln sollten. Aber auch der "Lohengrin", den der Filmregisseur Werner Herzog 1987 in nie da gewesener – geradezu filmischer – Romantik auf die Bühne brachte, gehörte zu den Highlights Bayreuths in jenen Jahren. Dichtes Schneetreiben, gotische Architektur, echtes Wasser auf der Bühne, eine verschwenderische Kostümpracht und ein laser- und nebelilluminierter Auftritt des Schwanenritters, wie er zuvor nur als Science-Fiction-Wunder im Kino denkbar war. Paul Frey sang den Lohengrin in dieser Inszenierung.

1994 hatte Alfred Kirchner mit geschmäcklerisch-postmodernen, im Grunde beliebigen Bühnenbildern der Ausstatterin Rosalie einen "Ring" inszeniert, den James Levine dirigierte. Es war ein "Ring", der weder politisch noch theaterästhetisch Stellung bezog. Um so mehr war man auf die für das Jahr 2000 geplante "Ring"-Neuinszenierung Jürgen Flimms und Erich Wonders gespannt, die nun von Giuseppe Sinopoli dirigiert wurde. Ein "Ring" in farbintensiven, illusionären, an Industrie- und Verwaltungsarchitektur erinnernden Bildern einer modernen westlichen Industrienation mit weitgehend zerstörter Natur. Der Bühnenzauberer Erich Wonder und der ehemalige Chef des Hamburger Thalia-Theaters Jürgen Flimm erzählen ganz unopernhaft und in Bildern unser heutigen Zeit die immer noch aktuelle Geschichte einer durch Politik ruinierten, durch Macht korrumpierten Welt. Aber auch die Geschichte einer dem Ende geweihten Gesellschaft, in der Liebe und Moral keinen Platz mehr haben. Jürgen Flimm:

Jürgen Flimm:

"Wir haben schon versucht, über die realistische Erzählweise...versuchen wir es, es mag nicht in allen Bereichen gelungen sein, ganz nah an uns ranzuholen, es nicht durch mythischen Nebel zu verstellen."

Die Premiere des neuen Bayreuther "Rings", dessen Zyklus man wie immer dreimal komplett zeigte, wurde mit größter Aufmerksamkeit der internationalen Presse verfolgt. Noch immer sind die Bayreuther Festspiele nicht nur das wichtigste und bedeutendste deutsche Festival, sondern auch international eines der meistbeachteten. Allerdings ist der "Ring 2000" auch zu einem erhofften Event geworden. Mit Wolfgang Wagners eigener "Meistersinger"-Inszenierung, mit der er sich 1996 wenig rühmlich als Regisseur verabschiedete, gab Christian Tielemann in der Wiederaufnahme des Jahres 2000 seinen dirigentischen Einstand in Bayreuth. Der geschäftstüchtige Shooting-Star unter den Nachwuchs-Dirigenten und Nachwuchsstar einer renommierten Schallplattenfirma ist als Person und Dirigent heftig umstritten. Dennoch wurde er auch für den neuen "Tannhäuser" im Jahre 2002 und auch für den nächsten "Ring" im Jahre 2006 verpflichtet. Mit einem von der Kritik überwiegend als desaströs bezeichneten "Parsifal" gab auch der Dirigent Christoph Eschenbach seinen Einstand am Grünen Hügel. Bayreuth ist offensichtlich nicht mehr, was es einmal war: die Bühne der besten Wagnerinterpreten.

Sängerquerrelen, der inzwischen übliche Familien-Klatsch und die Frage des Nachfolgers Wolfgang Wagners als Festspielchef beherrschen das gegenwärtige Bayreuth.

Eine starke Frau oder ein starker Mann ist im Bayreuth der Zukunft gefragt. Der Stiftungsrat der Richard Wagner-Stiftung favorisiert inzwischen als Nachfolgerin Wolfgang Wagners Tochter aus erster Ehe, Eva Wagner-Pasquier. Sie ist allerdings nicht die Wunschkandidatin ihres Vaters, der lieber seine jetzige Ehefrau zur Erbin des von ihm wesentlich aufgebauten Nachkriegs-Unternehmens machen würde.

Wolfgang Wagner:

"Wenn ich, sagen wir, eine wirklich sinnvolle Nachfolge, die möglich wäre, aufgrund des Wahlmodus, wenn ich die gesehen hätte, hätte ich mich vielleicht ja schon vorher verabschiedet. Aber ich habe bloß ein Verantwortungsbewusstsein, denn die Nachfolge, das ist eine ganz heikle Sache, denn die greift ja strukturell – ganz egal wer´s macht – in die Dinge ein, die heute, sagen wir, selbstverständlich in sich gefügt sind und die auch als Unikat gelten. Das fängt ja an nicht nur mit der Form der Führung, es fällt zusammen mit der ganzen Haussanierung, mit der Finanzierungsmöglichkeit."

Man darf gespannt sein, wie die Nachfolgefrage Wolfgang Wagners in Bayreuth entschieden werden wird, und wann sie entschieden wird. Einen Anlass für rasches Handeln sieht er nicht und verschiebt die Entscheidung über seinen Nachfolger in eine nicht absehbare Zukunft. Seine künstlerischen Planungen sind ohnehin bereits bis ins Jahr 2006 abgeschlossen.

Wolfgang Wagner

"Auf jeden Fall ist es nicht so, dass ich gesagt habe, ich höre an dem oder dem Tag auf, es hängt ja auch von meinem Gesundheitszustand ab. Wenn ich das Gefühl habe oder mir Freunde sagen: Hör mal zu, Du schwätzst zuviel, Du tust nichts mehr, es hat gar keinen Sinn, ... In der jetzigen Situation, da sehe ich doch noch einige Jahre notwendige Arbeit, dass man das noch versucht, zu stabilisieren!"

Bei allen Bedenken gegen die inzwischen kaum mehr dialog- und kompromissbereite Haltung und den patriarchalischen Leitungsstil des kauzigen Festspielchefs und Wagner-Enkels Wolfgang: er ist als Theater-Manager, als Organisator und Leiter der Festspiele ein kaum zu ersetzendes Unikat! Er leitet inzwischen seit 50 Jahren das Bayreuther Unternehmen. Kein anderer Theaterdirektor saß je so lange im Chefsessel. Bis 1966 arbeitete Wolfgang noch mit seinem Bruder Wieland zusammen. Seit dessen Tod führt er das Bayreuther Unternehmen in Alleinverantwortung. Wolfgang hat aus dem baufälligen Nachkriegsfestspielhaus ein technisch inzwischen hochmodern ausgerüstetes, beispielhaft restauriertes Opernhaus gemacht. Die Bayreuther Festspiele sind eines der materiell erfolgreichsten Festspielunternehmen der Welt mit den vergleichbar billigsten Festspielpreisen, was ihm bis heute allerdings nur gelingt, weil seine Künstler niedrigste Festspiel-Gagen akzeptieren. Die Kartennachfrage ist alljährlich zehn Mal so hoch wie das Platzangebot. Und für die Zukunft der Festspiele hat der clevere Bayreuth-Impresario einen der spendabelsten Mäzene, den amerikanischen Milliardär Alberto Vilar als Förderer gewonnen.

Was sich seit 1951 – der Stunde Null "Neubayreuths" - in dem oberfränkischen Städtchen Bayreuth alljährlich ereignet, die Jagd nach Eintrittskarten, das Defilé der Prominenten und "Very Important People", aber auch die Karussellfahrt der für Schlagzeilen sorgenden Regisseure, Dirigenten und Sänger, all das hat wenig zu tun mit des jungen Richard Wagners schönem Traum vom demokratischen Kunst-Fest! Dennoch sind die Bayreuther Festspiele einzigartig. Schon das Repertoire unterscheidet sich von allen übrigen Festspielen. Wer nach Bayreuth kommt, setzt sich bewusst nur dem Œuvre Wagners aus. Und an dem dafür von Wagner vorgesehenen, authentischen Ort. Wagners Werk hat sich bis heute nicht erschöpft und offenbart immer noch seine Lebendigkeit und ungebrochene Aktualität. Der Komponist selbst forderte seine Zeitgenossen und Nachgeborenen ausdrücklich auf: "Kinder, macht Neues!"

Richard Wagner und seinem musiktheatralischen Oeuvre werden noch immer verfälschende Vorurteile und Missverständnisse entgegengebracht. Ob im dritten Jahrtausend ein Ende dieser Missverständnisse in Sicht ist, bleibt zu bezweifeln.

Die Gründe liegen auf der Hand. Das 20. Jahrhundert – und das gilt wohl auch noch für das kommende - zehrte noch immer von den geistigen Materialien des 19. Jahrhunderts. Von den Sprengstoffen, Giften, Hoffnungen, Utopien, Heilsversprechungen und Irrtümern in Kunst, Politik, Gesellschaft und Philosophie. Sie sind in den Musikdramen Wagners präsent. Schon deshalb dürfte die Aktualität und Brisanz Wagners auch in Zukunft gesichert sein!

In seinen Bühnenwerken laufen viele Fäden zusammen: die von Romantik und Moderne, französischem Frühsozialismus und deutschem Kapitalismus, vorfreudianischer Psychoanalyse und antikem Mythos, deutschtümelndem Nationalismus und wahrhaft europäischem Kosmopolitismus.

Wagner schuf eine musikalisch-theatralische Utopie, die in sich so vielschichtig und brüchig, explosiv und gefährlich vieldeutig ist, wie nur wenig Vergleichbares in der neueren Kulturgeschichte. Wagner ist kein einfacher Fall! Deshalb ist jedes unreflektierte Urteil ein Fehlurteil oder ein Vorurteil. Der Streit und der mancherorts immer noch zelebrierte Kult um den kleinen Sachsen mit dem großen musikdramatischen Werk, die immer noch scheinbar unversöhnliche Feindschaft zwischen Wagner-Verehrern und -Verächtern markieren aber gerade die nach wie vor herausfordernde, ungebrochene Aktualität und Brisanz seines musikdramatischen Werkes. Es enthält noch immer viel Zündstoff und "Zukunftsmusik".