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Kieler Forscher warnen vor Verteilungskämpfen

8. September 2023

Die Wachstumsaussichten für Deutschland bleiben laut Kieler Institut für Weltwirtschaft auch auf mittlere Sicht mau. Das Produktionspotenzial der deutschen Wirtschaft könnte in den nächsten Jahren dramatisch sinken.

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Ein Containerschiff liegt zur Abfertigung an den Terminals im Hamburger Hafen
Bild: Axel Heimken/dpa/picture alliance

Die Produktionsmöglichkeiten der heimischen Wirtschaft könnten in den nächsten Jahren spürbar sinken und im Mittel dann nur noch Steigerungsraten von jährlich 0,4 Prozent zulassen. Das wäre weniger als ein Drittel des langjährigen Durchschnitts von 1,3 Prozent, teilte das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) am Freitag zu seiner Mittelfristprognose für die Zeit bis 2028 mit. Eine alternde Gesellschaft und damit der Verlust von Arbeitskräften hemmten ebenso wie die Folgen der Corona-Pandemie und der Energiekrise. Der Fünf-Jahresausblick der Kieler Forscher ist mit "Wachstum im Sinkflug, Expansionsspielräume nicht allzu hoch" übertitelt. 

"Wachstum ist kein Schicksal", sagte IfW-Konjunkturchef Stefan Kooths. "Es gilt jetzt wirtschaftspolitisch diejenigen Standortfaktoren zu stärken, die man selbst in der Hand hat - Stichwort Bildung, Infrastruktur, Bürokratie, Abgabenquote - und so auch für ausländische Fachkräfte attraktiver zu werden."

In diesem und im nächsten Jahr dürfte die Anzahl der Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bei 47,1 Millionen Erwerbspersonen stagnieren. Ab 2025 dürften dann mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als neue hinzukommen - etwa 200.000 pro Jahr. Dabei unterstellt das IfW bereits eine Nettozuwanderung von rund 200.000 Erwerbspersonen aus dem Ausland, was im historischen Vergleich als eher hoch gilt.

Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel gestikuliert auf der Bundespressekonferenz in Berlin
Warnung vor Verteilungskämpfen: Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in KielBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

"Phase zunehmender Verteilungskonflikte droht"

"Deutschland steht mit seiner demografischen Entwicklung nicht allein", sagte Kooths. In weiten Teilen der Weltwirtschaft stellten sich ähnliche Probleme. "Der Wettbewerb um die Talente der Welt wird damit härter - umso wichtiger wird eine wachstumsstärkende Politik, die den Standort für qualifizierte Zuwanderung und Investitionen attraktiver macht", so der Konjunkturchef. Ganz wesentlich seien hier eine funktionierende Infrastruktur und ein attraktives Wohnungsangebot in Städten, weil dort die produktivsten Unternehmen angesiedelt seien.

"Ohne neue Wachstumsimpulse droht Deutschland eine Phase zunehmender Verteilungskonflikte", sagte Kooths voraus. "Denn weniger Wachstum engt immer auch die Verteilungsspielräume ein, und die Zahl der Menschen steigt, die im Alter Ansprüche auf Sozialleistungen haben." Für das laufende Jahr erwartet das Kieler Institut einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 0,5 Prozent, dem 2024 ein Wachstum von 1,3 Prozent folgen soll.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), steht mit verschränkten Armen in seinem Büro
Warnt vor Schwarzmalerei: Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

DIW hält Warnungen vor wirtschaftlichem Abstieg übertrieben

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält Warnungen vor einem Abstieg Deutschlands ungeachtet der aktuellen Konjunkturschwäche für übertrieben. "Nein, Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher am Freitag bei der Vorstellung der neuen Prognosen seines Hauses. "Er könnte es werden, wenn jetzt wichtige Reformen nicht gemacht werden." Mit einem klugen Transformationsprogramm ließen sich sowohl Angebot als auch Nachfrage stärken - etwa indem die Politik Bürokratie und Regulierung abbaue, in Infrastruktur, Bildung und Forschung investiere und auf sozialen Ausgleich achte. Die Stimmung sei derzeit deutlich schlechter als die Realität.

Politik und Unternehmen müssten aufpassen, "dass sich wirtschaftliche Sorgen und Ängste nicht weiter hochschaukeln und zu einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale führen", sagte Fratzscher.

Das DIW schloss sich anderen führenden Instituten an und gab einen pessimistischeren Ausblick ab als noch im Frühsommer. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte 2023 in Deutschland mit 0,4 Prozent doppelt so stark schrumpfen wie bislang vorhergesagt, heißt es in der Herbstprognose. Für 2024 und 2025 sei dann ein Wachstum von jeweils 1,2 Prozent zu erwarten. "Die exportorientierte deutsche Wirtschaft kommt trotz anziehender Weltwirtschaft nur langsam in Fahrt", sagte DIW-Experte Timm Bönke. Die Berliner Forscher blicken damit ähnlich auf die Konjunktur wie das Kieler IfW, das Münchner Ifo-Institut, das Essener RWI und das IWH aus Halle. Gemeinsam veröffentlichen sie in den kommenden Wochen ihre Konjunkturprognose für die Bundesregierung.

Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland?

tko/dk (rtr, IfW)